Wochenzeitungen zum russisch-ungarischen AKW-Deal
27. Jan. 2014Im Folgenden einige Schlagzeilen aus ungarischen Wochenzeitungen, die sich mit der geplanten Errichtung von zwei weiteren Blöcken russischer Bauart im Kernkraftwerk Paks befassen: „Der Skandal des Jahres“ (168 óra); „Ostblock“ (Heti Világgazdaság); „Das Geschäft des Jahres?“ (Figyelő); „Ungarn von Putin geködert“ (Magyar Narancs); „Rollenwechsel in Kissidonia“ (Demokrata); „Paks Vobiscum“ (Paks sei bei dir, Heti Válasz).
In seinem regelmäßigen Leitartikel für 168 óra vertritt Tamás Mészáros die Ansicht, dass der Abschluss eines geheimen Deals über das größte mit Russland verabredete Investitionsprojekt der ungarischen Geschichte erhebliche politische Risiken für die Regierung in sich berge. Weshalb habe sie sich nur wenige Wochen vor den Parlamentswahlen auf dieses Risiko eingelassen?, fragt der Autor. Vielleicht, so spekuliert Mészáros, sei die traditionell anti-russisch geprägte rechte Öffentlichkeit mittlerweile genügend vom „permanenten Europa-Bashing des Ministerpräsidenten“ durchtränkt, dass sie die Wendung als weitere „Heldentat“ und weniger als Kapitulation interpretiere. In seiner Schlussbemerkung schreibt der Leitartikler, dass Fidesz-Gefolgsleute möglicherweise darauf hoffen, zehn Jahre lang als Subunternehmer vom Bauprozess profitieren zu können.
In Heti Világgazdaság denkt Ibolya F. Vitéz darüber nach, warum gerade Russland als Erbauer der beiden neuen Reaktorblöcke auserkoren worden sei. Ihre Antwort: Ungarn könne das Vorhaben finanziell nicht aus eigenen Kräften stemmen, während potenzielle Wettbewerber eine zu geringe Kreditsumme für den Fall angeboten hätten, sie würden nicht in angemessenem Umfang selbst an dem neuen Kraftwerksteil beteiligt, was aber die ungarische Regierung nicht habe akzeptieren wollen. Andererseits habe Ungarn in der Vergangenheit erfolgreich die „russische Karte“ ausgespielt – so habe im vergangenen Jahr ein einfacher Moskaubesuch des Ministerpräsidenten urplötzlich das Vertrauen der Investoren gestärkt, woraufhin Staatsanleihen im Wert von 3,5 Milliarden US-Dollar mit relativ niedrigen Renditen angekauft worden seien. Vitész schließt nicht aus, dass im Fahrwasser des Atomdeals mit Russland jetzt ein weiteres dickes Bündel Staatsanleihen ausgegeben wird. Die Autorin vermutet zudem, dass sich das Atomabkommen günstig auf eine Neuauflage des 2015 auslaufenden langfristigen ungarisch-russischen Gasvertrages zu für Ungarn noch günstigeren Konditionen auswirken werde. Schließlich verweist die Analystin von HVG darauf, dass unmittelbar nach der Moskau-Visite Orbáns Kroatien bei den Verhandlungen über umstrittene Managementrechte des ungarischen Ölmultis MOL beim kroatischen Öl-und Gasunternehmen INA plötzlich deutlich versöhnlicher auftrete (vgl. BudaPost vom 4. Oktober 2013). Kroatien dürfte tatsächlich nicht sonderlich glücklich sein, sollte MOL seine 49-prozentige INA-Beteiligung an den russischen Gasriesen Gazprom veräußern, um auf diese Weise den Streit zu beenden.
Zoltán F. Baka verweist in Figyelő auf Quellen, denen zufolge die Gespräche Orbáns in Moskau in ihrem Ton viel weniger freundlich verlaufen seien, als die Öffentlichkeit aufgrund des offiziellen Kommuniqués vermuten könnte. Und zwar habe der ungarische Ministerpräsident den von Präsident Putin angebotenen Zinssatz nicht akzeptiert und sich sogar geweigert, sich auf halbem Wege zwischen dem von den Russen angebotenen und dem von Ungarn erbetenen Zins zu treffen, obgleich dies in Moskau als etablierte Praxis bei internationalen Verhandlungen betrachtet werde. Jetzt, ohne Vereinbarung über den Russland zu zahlenden Kreditzinssatz, sei es praktisch unmöglich vorherzusagen, ob die beiden Kraftwerksblöcke rentabel arbeiten würden.
In der gleichen Wochenzeitung äußert sich jedoch der ehemalige stellvertretende Staatssekretär für Energiefragen Tamás Felsman dahingehend, dass die von Paks II erzeugte Energie – falls nicht staatlich subventioniert – zu teuer werden würde. Doch im Falle einer Subventionierung würde die Europäische Kommission Ungarn ganz sicher vor den Europäischen Gerichtshof bringen. Laut Felsman benötigt Ungarn bis zum Jahr 2030, wenn die vier bestehenden Blöcke sukzessive abgeschaltet werden, gar keine neuen Meiler. Mit anderen Worten komme das Vorhaben rund acht Jahre zu früh und in den nächsten acht Jahren würden wir mehr über die Realisierbarkeit potenzieller alternativer Technologien wissen, ist sich der Autor sicher.
In der Druckausgabe von Magyar Narancs rät Chefredakteur Endre B. Bojtár den Lesern, sie sollten nicht an die Mär von der ungarischen Regierung glauben, die einen heiklen Balanceakt zwischen zwei Großmächten – das heißt Deutschland und Russland – werde vollführen müssen. Man solle nicht glauben, dass dies der Grund dafür sei, dass Ungarn ein Kernkraftwerk aus russischer Produktion haben wolle. Der Autor bietet eine andere „weniger romantische“ Erklärung, der zufolge „Orbán seinen ehemaligen Verbündeten, die Europäische Union, aufgegeben und das Beiboot seines eigenen Landes an das russische Mutterschiff angedockt hat“. In einem geradezu apokalyptischen letzten Absatz seines Artikels schreibt Bojtár, die einzigen Staaten, die sich für Russland und gegen die EU ausgesprochen hätten, seien Belarus und die Ukraine. Beide seien von russischen Energieträgern geködert worden. „Wir haben noch freie Wahlen vor uns“, ermahnt Bojtár seine Leser.
Im Gegensatz dazu umreißt András Bencsik, einer der Organisatoren der drei regierungsfreundlichen „Friedensmärsche“, in seinem wöchentlichen Leitartikel für Demokrata (Druckausgabe) genau das von Bojtár verworfene Szenario. Falls Colleen Bradley Bell die designierte Botschafterin von Kissidonia in Washington wäre und falls sie vor ihrer Ernennung ihren Kongressabgeordneten von ihren Bedenken hinsichtlich des „Aufstiegs extremistischer Parteien“ [in den USA] berichtet hätte, würde das State Department sicher Kissidonia um die Berufung einer anderen Person auf den Botschafterposten bitten, schreibt Bencsik. Doch habe sie über Ungarn gesprochen, was laut Bencsik bedeute, dass Washington eine „Statthalterin“ nach Ungarn entsende, deren Aufgabe darin bestehe, „primitiven Eingeborenen eine verbindliche Lebensweise aufzudrücken, darunter Kontrollen, Gegenkontrollen und Marihuana“. Im Vergleich dazu, doziert der Autor, „ist Russland das Land der Toleranz“. Bencsik fährt fort und erklärt, den Ungarn sei es oft gelungen, die richtige Balance zwischen den Großmächten zu finden, beispielsweise zwischen den Österreichern und den Türken. Das sei genau das, was das Land heutzutage mit Blick auf Russland und den Westen zu kopieren versuche. Und deswegen schlägt Bencsik einen weiteren Friedensmarsch für den 29. März vor, um damit das Balance-Vermögen der Regierung zu unterstützen.
Um seine Äußerungen zu rechtfertigen vergleicht Bencsik Kritiker der Erweiterung des AKW Paks mit einem Budapester Rabbi. Izsák Schulhof hatte über die Rückeroberung von Buda durch christliche Truppen nach 140 Jahren türkischer Herrschaft im Jahre 1686 geweint. Und in diesem Sinne sei auch in der Gegenwart nicht jeder mit den jüngsten Entwicklungen zufrieden, schreibt der Chefredakteur von Demokrata. In der Hitze des anhaltenden „Kulturkrieges“ (vgl. BudaPost vom 23. Januar) dürfte Bencsik für diese Bemerkung allerdings heftig attackiert werden, denn laut der Legende hatte der Rabbi Buda mit einem gewaltigen Schatz auf seinem Karren fluchtartig verlassen. In Wahrheit hingegen wurde der größte Teil der Budaer Zivilbevölkerung – Muslime wie Juden – ermordet oder als Sklaven deportiert, die durch die Besatzungstruppen verkauft werden sollten. Auch die Ehefrau des Rabbis und der achtjährige Sohn wurden von den Besatzern getötet.
Eine ganz andere Ansicht vertritt Bálint Ablonczy in der Druckausgabe von Heti Válasz. Er geht davon aus, dass die Regierung versuche, strategische Investitionen im Industriebereich seitens aller Großmächte anzulocken. Deutschland betreibe mehrere Automobilwerke in Ungarn, die Amerikaner seien stark im Bereich der Hightech-Industrie, während die Chinesen eine logistische Basis aufbauen wollten, die den Hafen von Thessaloniki in Griechenland mit Westeuropa verbinde. „Die natürliche Funktion, die Russland in diesem Spiel übernehmen kann, ist die Energieerzeugung“, erläutert Ablonczy.