Zehn Jahre in der EU
5. May. 2014Die meisten Kommentatoren sind sich einig: Ungarn hat seit dem Beitritt zur Europäischen Union am 1. Mai 2004 trotz Netto-Transferzahlungen im Wert von rund 1,5 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts nur relativ wenig Fortschritte zu verzeichnen. Meinungsunterschiede jedoch gibt es sowohl hinsichtlich der Ursachen für dieses schwache Ergebnis als auch mit Blick auf die Richtung, die die europäische Integration künftig nehmen sollte.
In HVG vertritt Miklós Tallián die Ansicht, dass nur wenige Länder „europäisches Geld noch dämlicher ausgegeben haben als wir“. Die Ungarn, so seine Erklärung, „haben europäische Kohäsionsfonds in Beton gegossen“, also in Projekte, die Stadtzentren hätten aufpolieren sollen – „und dies nicht nur einfach aus Gründen, die etwas mit Korruption zu tun haben“, sondern mit „ehrlichen, aber veralteten Überzeugungen“. Mit Entwicklung meinten viele Ungarn in Wahrheit unproduktive, der Zierde dienende Vorhaben, die letztendlich in einer „schauderhaften Nutzung der durch unsere Mitgliedschaft gebotenen Chancen“ resultiert hätten. Gleichzeitig, so fährt Tallián fort, würden immer mehr Studenten eine gewisse Zeit im Ausland studieren oder Jobs in anderen Ländern annehmen und – hoffentlich – sowohl intellektuell als auch professionell bereichert heimkehren. Summa summarum haben für Tallián die Ungarn die sich durch die EU ergebenden Chancen viel cleverer genutzt als ihre jeweiligen Regierungen. Und so sei die ungarische EU-Mitgliedschaft „ungeachtet aller gegenteiligen Anstrengungen unserer Regierungen“ eine Erfolgsgeschichte.
Gyula T. Máté von Magyar Hírlap vergleicht die ungarische EU-Mitgliedschaft mit einer Ehe, die nach zehn Jahren gefeiert werden muss, selbst wenn die Romantik der ersten Monate längst vorbei ist. „Wir müssen erkennen, dass sich unsere Liebesgeschichte in eine von Interessen geleitete Ehe verwandelt hat.“ Anfangs hätten wir innerhalb der Europäischen Union gewiss den blauen Paradiesvogel des Glücks gejagt, stellt der Autor fest. „Doch wie viele unserer Träume haben sich seither verwirklicht?“ Alle für wenige und keine für eine Mehrheit, stellt Gyula T. Máté ernüchtert fest, wobei er sich indirekt auf den langsamen Anstieg des Lebensstandards sowie das steiler werdende Wohlfahrtsgefälle bezieht. Dennoch, „ein Glas Bier ohne Schaumkrone ist immer noch besser als gar kein Bier“, zitiert der Journalist ein belgisches Sprichwort und warnt vor jeglicher Versuchung, das Bier zu verschütten. Stattdessen sollten die Ungarn viel aktiver sein und bestimmen, wie dieses Bier „gezapft“ wird.
In der Druckausgabe von Heti Válasz räumt der stellvertretende Ministerpräsident Tibor Navracsics ein, dass die vergangenen zehn Jahre eine Reihe von Enttäuschungen gebracht haben. Doch seien sie nicht allein auf „das fehlerhafte Funktionieren der europäischen Institutionen“ zurückzuführen, sondern auch auf die Schwäche Ungarns bei der Vertretung der eigenen Interessen innerhalb der Union. Navracsics, der vermutlich den in Pension gehenden Außenminister János Martonyi beerben und zudem als Kandidat des Regierungschefs für eine Position innerhalb der neuen vom Europaparlament einzusetzenden Europäischen Kommission gehandelt wird, schreibt, Ungarn müsse erfolgreichen Mitgliedsländern nacheifern, um letztendlich selbst erfolgreich zu werden. Er warnt davor, sich „aus europäischen Debatten“ zurückzuziehen. Im Gegenteil, Ungarn müsse lernen, seine eigenen Interessen zu verteidigen. „Europa schafft es auch ohne uns“, stellt Navracsics nüchtern fest, „doch wir können es nicht ohne Europa schaffen“. Die Vertreter Ungarns müssten sich an der Gestaltung der künftigen Union beteiligen, damit sie „unsere Union wird – so wie die von jedem anderen Land auch“.
In Demokrata erkennt Chefredakteur András Bencsik die großen Vorteile an, die den Ungarn die Mitgliedschaft in der Europäischen Union hinsichtlich der freien Reise- und Beschäftigungsmöglichkeiten beschert habe. Dennoch tituliert er die EU „ein Paradies von Widersprüchen“. So empfindet Bencsik die Bürokratie der Union als äußerst überdimensioniert. Sie greife in unnötiger Weise in Dinge von nationaler Zuständigkeit ein. Bencsik begründet, weshalb er gemeinsam mit Mitstreitern im Januar 2012 den ersten „Friedensmarsch“ unter dem Motto „Wir wollen keine Kolonie sein“ organisiert habe. Seiner Meinung nach haben „mächtige Kreise der EU“ gedacht, die Ungarn seien nicht mündig genug, die Regierung zu wählen, unter der sie leben wollten. Das hätten sie „korrigieren“ wollen – „nicht, indem sie Panzer schicken, sondern indem sie die demokratisch gewählte Regierung zum Rücktritt zwingen“. Indem diesem Versuch widerstanden worden sei, „sind wir tatsächlich vollwertige Mitglieder geworden“. Bencsik geht sogar so weit zu behaupten, dass, da die umstrittene Politik von Ministerpräsident Orbán außerhalb Ungarns bisher eine heilbringende Wirkung gezeitigt habe, man sagen könne, „die ersten Schritte eines neuen europäischen Zeitalters wurden in Ungarn gegangen“.
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