Gedenken an die Wiederbestattung von Imre Nagy
17. Jun. 2014Während Ungarn der erneuten Bestattung des nach dem Volksaufstand 1956 hingerichteten Ministerpräsidenten Imre Nagy gedenkt, versuchen Kommentatoren der aktuellen Bedeutung dieser Veranstaltung des Jahres 1989 nachzuspüren, wobei ihre politischen Grundeinstellungen einmal mehr deutlich werden.
Der maßgebliche Teil der ungarischen Gesellschaft habe den Regimewechsel lediglich ertragen, anstatt von ihm zu profitieren, schreibt Zsuzsanna Körmendy in Magyar Nemzet. Sie erinnert an die Rede Viktor Orbáns anlässlich der feierlichen Wiederbestattungszeremonie am 16. Juni 1989. Darin hatte es geheißen, die kommenden zwanzig Jahre der ungarischen Jugend sollten in den symbolischen „sechsten Sarg“ (neben den fünf Särgen von Nagy und seinen Mitstreitern) gelegt werden. Körmendy glaubt, dass die Zukunft des ganzen Landes in diesem Sarg liege, da die beiden Jahrzehnte nach dem Regimewechsel durch Arbeitslosigkeit, Armut und räuberische politische Eliten gekennzeichnet gewesen seien – Eliten, die von der Demontage des zuvor von ihnen gestützten Regimes profitiert hätten. Obwohl die Wahlen 2010 eine andere Richtung gewiesen hätten, so die Autorin, stünden einschneidende Verbesserungen der alltäglichen Lebensbedingungen nach wie vor aus und müssten für die Regierung die allergrößte Priorität genießen.
Auch Péter N. Nagy ruft in Népszabadság das Bild des sechsten Sarges sowie die zwei verlorenen Jahrzehnte der ungarischen Jugend in Erinnerung. Wann werde diese Periode enden?, fragt der Autor. Vor 25 Jahren habe Viktor Orbán seine Hoffnung auf eine Entwicklung nach westlichem Vorbild gesetzt, doch wirft Péter N. Nagy ihm vor, er glaube stattdessen an „asiatische Sackgassen“, und fragt sich, ob die Jugend unserer Tage „diese Wende für den geeigneten Weg aus dem sechsten Sarg“ halte.
Róbert Friss von der Tageszeitung Népszava denkt über die Unfähigkeit der politischen und kulturellen Eliten nach, sich mit dem Andenken und dem Bild von Ministerpräsident Imre Nagy zu befassen. Die Nation präsentiere sich diesbezüglich gleichgültig, die Linke sei (vielleicht) nach wie vor unfähig und die Rechte (gewiss) unwillig, sich mit seinem Andenken zu beschäftigen. Imre Nagy sei nicht zum Staatsmann geworden, habe er sich doch als zu schwach erwiesen, den Aufstand am Vorabend des 23. Oktobers 1953 anzuführen. Dessen ungeachtet, glaubt Friss, wäre es mehr als genug, würden wir in ihm diejenige Person ehren, die ihre eigene Schwachheit überwunden habe und ihren Überzeugungen bis in den Tod hinein treu geblieben sei.
Der Chefredakteur von Magyar Hírlap, István Stefka, behauptet, dass die Kommunisten ihre Gleichgesinnten gewohnheitsmäßig zu Märtyrern stilisiert hätten (das heißt offizielle Märtyrer, an die man sich zu erinnern habe), dagegen hätten sie das Gedenken anderer von ihrem eigenen Regime ermordeter Opfer ignoriert. Auch habe es den Versuch gegeben, den Ruhm von 1956 zu monopolisieren, obgleich dessen Märtyrer nicht die einzigen gewesen seien. Es habe zahlreiche Helden und Opfer gegeben, deren Vergangenheit nicht durch kommunistische Verbrechen befleckt sei.
Tags: 1989, Nachwendezeit