Orbáns diplomatische Offensive zur Migration
28. Sep. 2015Die Kommentatoren sind sich uneins, ob es dem Ministerpräsidenten gelungen sei, seine Ideen zur Lösung der Flüchtlingskrise unter den europäischen Spitzenpolitikern zu popularisieren. Unterdessen macht sich zunehmend die Überzeugung breit, dass Europa mit Blick auf eine Lösung der Flüchtlingskrise in Zeitverzug geraten sei.
Der Ministerpräsident habe einen Sieg errungen, denn er sei der erste der Staats- und Regierungschefs gewesen, der die Politik der offenen Türen aufgegeben habe, meint Péter Németh in Népszava. Mittlerweile würden die meisten europäischen Spitzenpolitiker anerkennen, dass nicht sämtliche Ankommenden vor tödlicher Gefahr fliehen würden und dass der europäische Kontinent sie nicht alle aufnehmen könne. Németh glaubt sogar, dass die Idee des Ministerpräsidenten, Asylsuchende außerhalb der EU-Grenzen zu überprüfen, in Bälde akzeptiert werde. Ungeachtet dieses unleugbaren Sieges sei Orbáns Politik dennoch gescheitert, denn seine Streitigkeiten mit benachbarten Ländern hätten bleibende Narben hinterlassen: Zudem habe Ungarn im Ausland den Eindruck erweckt, es sei ein alle humanitären Prinzipien ablehnendes Land.
Dessen ungeachtet geht Gábor Stier davon aus, dass mit dem auf dem EU-Gipfel vorgelegten Sechs-Punkte-Programm Orbán seine Isolation durchbrochen habe. In Magyar Nemzet schreibt der Autor, nach einer Periode „verbalen Karates“ habe Orbán konkrete Vorschläge auf den Tisch gelegt, von denen fünf durchgegangen seien. Und trotz einer „oftmals fürchterlichen Rhetorik“ sei Ungarn letztendlich eines der wenigen Länder, das konkret etwas zur Lösung der Krise beigetragen habe.
Auf 24.hu, einer Internetseite des linken Spektrums, vermutet Zoltán Lakner, dass keiner der sechs Vorschläge von Orbán in Brüssel angenommen worden seien. Es seien einige ähnliche Beschlüsse verabschiedet worden, die allerdings aus anderen Quellen stammten. Lakner glaubt dennoch, dass sich die internationale Position des Ministerpräsidenten verbessern werde, falls seine polnischen Verbündeten im Oktober – wie vermutet – die Wahlen gewinnen sollten und weil auch die oft schwankende deutsche Kanzlerin eine härtere Gangart in der Einwanderungspolitik einschlage.
Der Politikwissenschaftler Tamás Fricz äußert in Magyar Idők die Ansicht, dass Viktor Orbán einen Trend in der internationalen Politik setze, der Selbstverteidigung und nationale Souveränität repräsentiere. Und es bleibe die große Frage dieser Zeit, ob dieser Trend die kontraproduktive Politik der Offenheit gegenüber allen Migranten, wie von Kanzlerin Merkel verkörpert, überwinden werde. Außerdem führt Fricz die Flüchtlingskrise auf die gescheiterte US-Strategie zurück, im Nahen Osten Demokratien einführen zu wollen – und das in Gesellschaften, die nicht empfänglich seien für die Demokratie westlichen Zuschnitts. Die vom Autor anvisierte Lösung würde vom Westen verlangen, bei der Wiederherstellung von Stabilität im Nahen Osten mitzuhelfen – und sei es auch auf Kosten der Tolerierung undemokratischer Regimes, die mit den lokalen Traditionen vereinbar seien.
In seinem Leitartikel in Magyar Nemzet geht Zoltán Veczán davon aus, dass Europa den Ernst der Lage nunmehr erkannt habe. Selbst entschiedene Kritiker der ungarischen Regierung hätten ihre liberalen Dogmen einer uneingeschränkten Offenheit Migranten gegenüber hinten angestellt, darunter der Schriftsteller György Konrád und die Philosophin Ágnes Heller. Wenn der Islam eine führende politische Kraft in Europa werden sollte, wären es die Liberalen, die als erste Verfolgung zu fürchten hätten.
„Einen Immigranten aufzunehmen ist eine Geste, zehn aufzunehmen ist Barmherzigkeit und hundert aufzunehmen könnte eine wirtschaftliche Möglichkeit sein, aber eine Million aufzunehmen ist ein erhebliches Risiko“, warnt Barna Borbás auf Mandiner. Er prognostiziert, dass die europäischen Länder innerhalb von sechs Monaten nicht mehr in diejenigen geteilt seien, die sich für oder gegen eine unbeschränkte Zuwanderung aussprächen, sondern in diese, die ihre Grenzen schließen wollten, und jene, die Zuwanderung erlaubten – jedoch lediglich eine der rigoros kontrollierten Sorte.
Auf derselben Seite fragt Gellért Rajcsányi, ob das, was in diesen Tagen geschehe, nicht ein Hinweis auf das Ende der „glücklichen Jahre des Friedens“ sei. Rajcsányi befürchtet, dass unsere wahrscheinlichste Zukunft dadurch geprägt sei, dass High-Tech-Polizeistaaten einen asymmetrischen Krieg gegen terroristische Gegner führten. Ursache dafür sei die Unfähigkeit Europas, die Massen von Migranten auch zu integrieren, die es in den kommenden Jahren aufnehmen werde.
In Magyar Idők kritisiert Ottó Gajdics die russisch-amerikanische Schriftstellerin und Menschenrechtsaktivistin Masha Gessen, die in ihrer Eröffnungsrede der Göteborger Buchmesse – mit Ungarn als Ehrengast – die Flüchtlingspolitik der ungarischen Regierung heftig kritisiert hatte. Sie habe in einem Land gesprochen, in dem sich jüdische Menschen angesichts des Zustroms muslimischer Immigranten ernsthaft Gedanken über eine Auswanderung machten. In Göteborg selbst, merkt Gajdics an, gebe es Zonen, die man meiden sollte; muslimische Enklaven, in die sich Postboten oder die Feuerwehr nur unter massivem Polizeischutz vorwagen könnten.
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