Orbán und seine internationalen Verbündeten
7. Dec. 2015Analysten aus dem linken und rechten Spektrum gleichermaßen erkennen an, dass der ungarische Ministerpräsident mit seinen Ansichten zur Immigration in Europa nicht mehr isoliert dastehe. Unterschiedliche Meinungen herrschen jedoch in der Frage, ob Orbáns Position richtig oder falsch sei und ob sie sich letztendlich durchsetzen werde.
In HVG belächelt Péter Techet Analysten des rechten Spektrums, die den Ministerpräsidenten als eine führende politische Figur in Europa darzustellen versuchen. Er räumt allerdings ein, dass Orbán eine immer breitere Öffentlichkeit auf dem ganzen Kontinent anspreche. So sei er in Deutschland so populär wie die Sozialdemokratische Partei und rangiere nur wenige Prozentpunkte hinter den Christdemokraten. In den meisten deutschen Städten versammelten sich spontan Menschen aus Protest gegen die Einwanderung, wobei ein Loblied auf Orbán nicht vergessen werde. Allerdings liege Orbán falsch mit seiner Annahme, die von ihm betriebene Antimigrationspolitik sei eine Art Europa verteidigendes Schutzschild, unterstreicht Techet. Tatsächlich hätten ein oder zwei Terroristen von Paris Westeuropa via Ungarn erreicht. Ungeachtet seiner relativen Popularität in Deutschland vermutet Techet, dass Orbán im Westen lediglich von Randgruppen unterstützt werde. Alles in allem sei der ungarische Regierungschef nicht zum starken Mann Europas aufgestiegen und der Kontinent wolle seinem Ungarn keineswegs nacheifern, resümiert Techet.
Nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Gábor Török kann Viktor Orbán auf Verbündete in Großbritannien und Polen hoffen. Beide Länder würden von Parteien regiert, die Brüssel mit Misstrauen begegneten. Ansonsten, so Török in Heti Válasz, werde er hauptsächlich von radikalen Parteien wie der Front National in Frankreich oder der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) unterstützt. Demgegenüber geht der regierungsfreundliche Analyst Sámuel Ágoston Mráz davon aus, dass der slowakische Ministerpräsident Robert Fico ungeachtet aller ideologischen Unterschiede ein weiterer stabiler Partner für Orbán werden könnte. Zur Begründung verweist Mráz in der gleichen Wochenzeitung darauf, dass für beide das Prinzip der nationalen Souveränität eine gewichtige Rolle spiele. Schließlich, so orakelt der Autor, werde der französische Präsident Hollande wohl die nächsten Wahlen verlieren. Der vermutliche Wahlsieger, Oppositionschef Nicolas Sarkozy, sei ein entschiedener Kritiker der Brüsseler Einwanderungspolitik und könnte demzufolge zu Orbáns Verbündetem werden. Im Hinblick auf die FPÖ notiert Mráz, Ministerpräsident Orbán sei während seiner jüngsten Wien-Visite keineswegs erpicht darauf gewesen, deren Führungsspitze zu treffen.
Zsolt Bayer hält es für absurd, dass die Europäische Kommission aufgrund der neuen ungarischen Einwanderungsregeln ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn plane. Souveränität, so argumentiert Bayer in seinem Blog, beginne dort, wo ein Land darüber entscheiden könne, wen es hereinlasse. Ungarn sei nun eines der wenigen Länder in Europa, deren politische Führung in diesem Geist agiere und dem Willen der Bevölkerung in Einwanderungsfragen Rechnung trage – im Gegensatz zum politischen Führungspersonal in anderen Ländern, das, wie Bayer sich ausdrückt, einen „religiösen“ Glauben an die Abschaffung von Nationalstaaten nähre. Wenn das der zu zahlende Preis sei, „dann brauchen wir die Europäische Union nicht“. Auf der anderen Seite sieht Bayer ein neues Bündnis mit den mittel- und osteuropäischen sowie den baltischen Staaten entstehen, das stark genug sein könnte, um „westlichen und transatlantischen Diktaten“ zu widerstehen. Europa schaufle sein eigenes Grab, glaubt Bayer, Ungarn jedoch wolle kein Teil dieses Prozesses sein.
In Magyar Idők begrüßt László Néző die harte Haltung von Donald Tusk zur Migration als Kehrtwende, die dem ungarischen Ministerpräsidenten Recht gebe. Der EU-Ratspräsident habe Orbán gewöhnlich kritisiert und ihn sogar übers Christentum belehrt. Nunmehr hingegen versuche er offensichtlich, den Chor der gegen die „Willkommenskultur“ (im ungarischsprachigen Text wird der deutsche Begriff verwendet – Anm. d. Red.) eingestellten Kräfte zu leiten. Dies würde beispielsweise nicht ausschließen, Migranten zwecks gründlicher Überprüfung bis zu 18 Monate in Gewahrsam zu halten. In der Interpretation von Néző ist Tusks Äußerung eine klare Absage an die Politik der deutschen Kanzlerin Merkel. Für derlei Stellungnahmen sei Orbán vor einiger Zeit noch quasi gekreuzigt worden, während er sich nunmehr rehabilitiert fühlen könne. Merkel, so vermutet Néző, sei durch unbestimmte politische Kräfte möglicherweise lahmgelegt. Der Autor warnt die Kanzlerin, dass ein Feilschen im Hinterzimmer keinen führenden Politiker in die Lage versetze, wider den Gegenwind der Geschichte zu segeln. Auch könnte es sich kein demokratischer Spitzenpolitiker erlauben, den Willen des eigenen Volkes zu ignorieren, unterstreicht Néző.
Donald Tusk habe die Linie der deutschen Kanzlerin niemals mit voller Überzeugung unterstützt und sei der Immigration gegenüber stets eher vorsichtig und zurückhaltend aufgetreten. Diese Auffassung vertritt Gellért Rajcsányi auf Mandiner. Nunmehr, angesichts der durch die Politik der offenen Türen verursachten total verfahrenen Lage, habe Tusk wohl die Zeit für klare Worte kommen gesehen. Es sei höchst bedauerlich, dass erst ein ganzes Jahr habe vergehen müssen, bis ein führender EU-Politiker endlich einen nüchternen Ton angeschlagen habe, so Rajcsányi. In der Tat habe der ungarische Ministerpräsident mit seiner Ablehnung einer unbegrenzten Einwanderung nichts Außergewöhnliches vollbracht. Er habe lediglich gewusst, dass Ordnung und Grenzkontrollen aufrechterhalten werden müssten. Und genau das wisse auch jeder besonnene Bürger von Luxemburg bis Bulgarien – im Gegensatz zu den europäischen Eliten, die in einer Welt weit entfernt von den europäischen Bürgern lebten, beklagt Rajcsányi und begrüßt die Äußerungen Tusks genau deshalb, weil sie diese beiden Welten näher zusammenbringen könnten.
Der Blog Hungary Today veröffentlicht einen Artikel von András Bódis, in dem er seine „liberalen Freunde“ warnt, dass ihre dogmatische Unterstützung ungezügelter Migration in erster Linie für sie selbst tragische Konsequenzen haben könnte. Der Journalist von Válasz erinnert daran, dass im Pariser Vorort St. Denis, in dem die Polizei Mitte November einen Terroristenunterschlupf ausgehoben hatte, 30 Prozent der Bevölkerung außerhalb Europas geboren worden seien. Von den unter 18-Jährigen seien über 70 Prozent Kinder von zumindest einem eingewanderten Elternteil. Bódis schlussfolgert daraus, dass die Neuankömmlinge aus muslimischen Staaten fertige islamische Infrastrukturen vorfänden und keinen Drang verspürten, sich in europäischen Gesellschaften zu integrieren. Der Tag, an dem die meisten jungen Leute einen Migrationshintergrund aufweisen und nicht in die örtlichen Gesellschaften integriert sein werden, werde schwer werden, prognostiziert Autor – schwer hauptsächlich für alle Liberalen, denen es nicht erlaubt sein werde, sich für die Rechte von Schwulen und andere ihnen wichtige Anliegen einzusetzen. Sie wären die ersten, die unterdrückt und verfolgt würden. Bódis räumt ein, dass er Liberale mit ihrer Cleverness und ihrer Neigung zum Hinterfragen und Nörgeln durchaus mag. „Aber diesmal macht ihr es unnötig kompliziert“, mahnt er abschließend.
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