Orbán zur Lage der Nation
1. Mar. 2016In ihren Kommentaren zur alljährliche Rede zur Lage der Nation pflichten konservative und regierungsfreundliche Kolumnisten Ministerpräsident Viktor Orbán bei, dass die Migrationskrise eine schwerwiegende Bedrohung für Europa und Ungarn darstelle. Linke Kommentatoren werfen Orbán dagegen vor, er betreibe eine gegen die EU gerichtete Politik und ignoriere den Willen der ungarischen Bevölkerung.
Ministerpräsident Viktor Orbán äußert sich jedes Jahr in einer programmatischen Rede zum Zustand Ungarns, wobei auch internationale Themen nicht ausgespart werden. So vertrat Orbán vor dem Hintergrund der sich seit 2015 zuspitzenden Flüchtlingssituation die Ansicht, dass die unkontrollierte Migration Sicherheit sowie europäische Grundwerte, darunter Freiheit und Toleranz, bedrohe. Er warf sowohl den Entscheidungsträgern in Brüssel als auch Menschenrechtsaktivisten vor, sie würden Schleusern unter die Arme greifen und Millionen an illegalen Migranten in die EU bringen.
Auf die Innenpolitik eingehend sagte Orbán: Im Jahr 2010 (dem Jahr des erdrutschartigen Fidesz-Wahlsieges) habe sich Ungarn inmitten einer Krise befunden. Diese Krise sei 2015 überwunden worden und nunmehr stehe das Land vor einem neuen Zeitalter von Entwicklungen. Seine Regierung werde auch weiterhin die Steuern senken, um auf diese Weise die Wettbewerbsfähigkeit des Landes zu verbessern. Orbán konstatierte, die protestierenden Lehrer hätten mit ihren Forderungen „recht“, und räumte ein, dass die Löhne im Gesundheits- und Bildungssektor nach wie vor niedrig seien. Gleichzeitig warnte er jedoch vor massiven Lohnerhöhungen, die den ausgeglichenen Staatshaushalt gefährden würden. Mit Blick auf Budapest versprach Orbán den baldigen Bau eines großen Krankenhauses.
„Die wichtigste Botschaft der Rede des Ministerpräsidenten lautet, dass Ungarn seine Souveränität und seine Kultur schützen müsse“, kommentiert János Csontos in Magyar Idők. Der regierungsfreundliche Kolumnist pflichtet Orbán bei, dass Migranten nicht integriert werden könnten und deren Aufnahme demnach den europäischen Lebensstil und die ungarische Kultur bedrohen würde. Csontos begrüßt den Mut des Regierungschefs, einen Stopp des Zustroms von Migranten zu fordern sowie Brüssel und Deutschland zu kritisieren, die sämtlichen EU-Staaten eine migrantenfreundliche Politik aufzwingen wollten. Immerhin sei die EU nicht die Sowjetunion und sollte demnach die Interessen keines ihrer Mitgliedsstaaten ignorieren, empfiehlt Csontos abschließend.
Auch Szabolcs Szerető stimmt mit der Einschätzung von Ministerpräsident Orbán überein, wonach es sich bei der unkontrollierten massenhaften Migration um die größte Herausforderung für Ungarn und Europa handele. In Magyar Nemzet äußert der konservative Autor allerdings auch die Ansicht, dass Orbán nach wie vor nicht die Bedeutung der Probleme im Gesundheits- und Bildungswesen erkannt habe. Neben der Migration, so Szerető, bedrohten die unterfinanzierten Bereiche Gesundheit und Bildung das ungarische Wohlergehen.
Péter Németh, seines Zeichens Chefredakteur von Népszava, entdeckt in der Rede Orbáns viele EU-kritische Botschaften. Der linke Journalist vergleicht die Rede des Ministerpräsidenten mit einem Schlachtruf in dessen Krieg gegen Brüssel und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die aggressive Rhetorik Orbáns sei darauf ausgerichtet, sich der Unterstützung des Wahlvolkes zugunsten der Regierungspartei zu versichern. Laut Németh ist es unwahrscheinlich, dass sie innerhalb der EU größere Kreise ziehen werde.
In Népszabadság wirft Miklós Hargitai Ministerpräsident Orbán vor, er nutze die Migrationskrise dafür, die „Öffentlichkeit auf Trab zu halten“ und ihre Aufmerksamkeit von Korruption sowie den Krisen um das Gesundheits- und Bildungssystem abzulenken. Der linksorientierte Kommentator argumentiert, es sei der Regierungschef gewesen, der Referenden zur Erweiterung des AKW Paks, der Olympiabewerbung Budapests oder dem Sonntagsverkaufsverbot verhindert habe, während er gleichzeitig Brüssel vorwerfe, den Volkswillen zu ignorieren.
(Das Paks-Referendum war vom Obersten Gericht nicht zugelassen worden. Zur Begründung wurde auf die Verfassung verwiesen, die Referenden über in internationalen Verträgen vereinbarte Sachverhalte ausschließt. Bezüglich der Bewerbung um die Olympischen Sommerspiele 2024 bemängelte das Gericht die Fragestellung (vgl. BudaPost vom 22. Januar). Über das Sonntagsverkaufsverbot: siehe BudaPost vom 25. Februar. Unterdessen hat das Nationale Wahlbüro mitgeteilt, dass die von der MSZP eingereichte Frage ebenfalls geprüft werde, und zwar gemeinsam mit der um drei Sekunden früher vorgelegten Fragestellung. Das tumultartige Geschehen an jenem Morgen im Zugangsbereich zum Nationalen Wahlbüro war von allen politischen Lagern als „skandalös“ beurteilt worden – Anm. d. Red.)