Olympischer Kulturkrieg
29. Aug. 2016In ihrer Gesamtbewertung der Olympischen Spiele von Rio interpretieren die ungarischen Kommentatoren die Leistungen der ungarischen Athleten sowie die Bedeutung des Sports mit Hilfe höchst ideologisierter und allzu sehr ins politische abgleitender Begriffe.
Für Magyar Narancs ist es eine grobe Übertreibung zu behaupten, Ungarn habe bei den Rio-Spielen insgesamt gesehen erfolgreich abgeschnitten. Die acht Goldmedaillen seien in drei Sportarten gewonnen worden, erinnert das linksliberale Wochenmagazin, während ungarische Athleten in anderen Wettkämpfen nicht sehr erfolgreich gewesen seien. Angesichts dessen, dass die ungarische Regierung den Sporthaushalt verdoppelt habe, sei Ungarn mitnichten erfolgreicher gewesen als vor vier Jahren. Sollte Ungarn den Zuschlag für die Spiele 2024 bekommen, merkt Magyar Narancs in einer Randnotiz an, werde die Regierung die Möglichkeit nutzen, durch lukrative Verträge die Taschen befreundeter Unternehmer zu füllen.
Die Leistungen von Rio seien wahrscheinlich ein Ansporn für weitere Sportinvestitionen, schreibt Gábor Lambert in Figyelő. Lambert befürchtet, dass der Sport zur wichtigen symbolischen Angelegenheit ungarischer Politik werde. Sollten sich Erfolge bei den Olympischen Spielen und Ungarns Bewerbung für die Olympischen Spiele 2024 zum ultimativen Anliegen auswachsen, würden Politiker sich gegenseitig zu übertrumpfen versuchen und noch mehr Ausgaben für den Sport fordern, selbst wenn dies Ressourcen austrockne, die eher anderen, wichtigeren sozialen Angelegenheiten zugute kommen sollten, warnt Lambert.
Ungarns Sporterfolge würden der Regierung helfen, die Leistungsschwäche in anderen Bereichen wie Bildung und Arbeitsmarktpolitik zu verschleiern, meint Dóra Ónody-Molnár in 168 Óra. Die Triumphe ungarischer Sportler würden den Wählern suggerieren, Ungarn sei ein erfolgreiches Land, so die liberale Kommentatorin. Ónody-Molnár hält es zudem für absurd, so wie Ministerpräsident Orbán anzunehmen, dass die gewonnenen Goldmedaillen vor allem der Erfolg des Landes in seiner Gesamtheit seien, und weniger der individuelle Verdienst der Athleten.
Die Errungenschaften eines Landes sollten eher durch Bildungsniveau, Wohlergehen, Produktivität und die Lebenserwartung beurteilt werden als durch Siege beim Sport, konstatiert Miklós Hargitai in Népszabadság. Die meisten Ungarn würden die Rio-Goldmedaillen freudig gegen weniger Korruption eintauschen, ätzt der Kolumnist des linken Spektrums.
In derselben Tageszeitung merkt Sándor Révész an, dass Ungarns Rang im Medaillenspiegel weniger gut sei als vor vier Jahren. Drei der Goldmedaillen seien von Katinka Hosszú gewonnen worden, die außerhalb des ungarischen Sportsystems trainiert habe, gibt der liberale Analyst zu bedenken. Dies ist laut Révész ein Hinweis darauf, dass der ungarische Sport so schlecht wie noch nie habe mithalten können.
Olympische Siege seien große, fette Lügen, kommentiert Róbert Puzsér in Magyar Nemzet. Ungarns Goldmedaillen würden das Bild des Landes in der Welt um keinen Deut aufpolieren. Zudem befürchtet Puzsér, dass der Sport auf Kosten von Wissenschaft und Kunst gefördert werde.
Die Worte von Ministerpräsident Orbán zur Verteilung der ungarischen Goldmedaillen seien beleidigend, empört sich Marianna Biró in Népszava. (Orbán hatte geäußert, „dass mit uns ungarischen Männern etwas nicht stimmt“. Sieben der acht Goldmedaillen wurden von weiblichen Athleten gewonnen – Anm. d. Red.) Die Kommentatorin des linken Spektrums interpretiert Orbáns Worte als Hinweis darauf, dass der Ministerpräsident männliche Errungenschaften höher bewerte als die Erfolge von Frauen. Biró spekuliert, dass der Ministerpräsident darüber besorgt sein könnte, dass weibliche Athleten die männliche Dominanz in Ungarn schwächen könnten. Anstatt sich Gedanken um das Geschlecht der Goldmedaillengewinner zu machen, sollte sich die Regierung eher darauf konzentrieren, sexuelle Gewalt einzudämmen, fügt Biró abschließend hinzu.
Was wäre wohl geschehen, wenn die meisten Goldmedaillen von Männern gewonnen worden wären und Ministerpräsident Orbán gemeint hätte, dass etwas mit den Frauen nicht stimme, fragt Albert Gazda in einem ironischen Beitrag für Magyar Nemzet. Für den gemäßigten Kolumnisten ist es völlig absurd, die Worte von Viktor Orbán als männlichen Chauvinismus zu interpretieren.
Es sei seltsam, dass linke und liberale Ungarn die nationale Freude und den Stolz über die ungarischen Erfolge in Rio offenbar nicht teilen könnten, notiert Attila Ballai in Magyar Idők. Um die olympische Bilanz des Landes zu bewahren, fordert der regierungsfreundliche Kolumnist auch für die Zukunft eine öffentliche Sportförderung.
Sport könne von Politik nicht getrennt werden, schreibt Péter Tamáska in Magyar Hírlap. Der konservative Historiker erinnert daran, dass Sportwettkämpfe seit der Antike über die Olympischen Spiele von Berlin 1936 bis hin in unsere Tage als nationale Wettbewerbe betrachtet worden seien. Tamáska vermutet, die Linke wolle die Bedeutung von Sportereignissen aufgrund ihres fehlenden Verständnisses für nationale Zugehörigkeit und den Wert des Patriotismus herunterspielen. Die Möglichkeit, die Olympischen Spiele 2024 auszurichten, wäre eine zeitgerechte Entschädigung für den Vertrag von Trianon, der Ungarn zerstückelt habe, meint der Autor.
In derselben Tageszeitung echauffiert sich Ervin Nagy: Es sei widerlich, dass einige Politiker des linken Spektrums versuchten, mit dem Feiern ungarischer Goldmedaillengewinner ihrer Popularität auf die Sprünge zu helfen. Der regierungsfreundliche Kolumnist wirft Linken vor, die Orbán-Regierung beständig für steigende Sportausgaben zu kritisieren, während es ihnen doch gleichzeitig gefalle, mit erfolgreichen Sportlern zu posieren.
In einem weiteren Artikel von Magyar Hírlap vertritt Emil Ludwig die Ansicht, dass der Erfolg ungarischer Athleten in Rio die linken Liberalen in den Wahnsinn treibe. Die Spiele von Rio seien ein heftiger Schlag für die Regierungskritiker gewesen, die meinten, verstärkte Investitionen in den Sport seien zum Fenster herausgeworfenes Geld, so der konservative Kommentator.
Tags: Olympische Spiele, Sportpolitik