Zu den Chancen einer umfassenden Zusammenarbeit der Opposition
14. Jan. 2019Verschiedene Wochenzeitschriften, Internetportale und Wochenendausgaben von Tageszeitungen beurteilen die Aussichten für die Bildung einer breit angelegten und gegen die Regierung ausgerichteten Koalition. Gefragt wird zudem, ob ein solches potenzielles Bündnis den Fidesz tatsächlich mit Aussicht auf Erfolg herausfordern könnte.
Der Historiker Károly Szerencsés vergleicht die Strategie der Opposition mit derjenigen der Kommunisten in den Jahren zwischen 1919 und 1946. In Magyar Hírlap wirft der regierungsfreundliche Kolumnist den Oppositionsparteien vor, zwecks Rückkehr an die macht den „Mob“ mobilisieren zu wollen. Szerencsés jedoch zeigt sich von ihrem Scheitern überzeugt, da Ungarn nunmehr eine starke Demokratie sei. Er appelliert an das Lager der Regierungsbefürworter, es möge sein Beharren auf Freiheit, Recht und Gerechtigkeit zum Ausdruck bringen, indem man ruhig bleibe und die Opposition schreien lasse.
Sollte die Opposition nicht ernst genommen werden, könnte sie nach dem Beispiel der Kommunisten des Jahres 1919 eine gewalttätige Richtung einschlagen, befürchtet auch Zsolt Jeszenszky, der in Magyar Idők fortfährt: Unwahrscheinlich, dass die ungarische Öffentlichkeit mit den aktuellen Führungskräften der Opposition sympathisiere, die Gewalt provozieren und anschließend als Märtyrer dastehen wollten. Doch hätten sie erst einmal begriffen, dass die Ungarn starke Helden statt bemitleidenswerter Opfer haben wollten, würde die Opposition von gewaltbereiten, „durch die Open Society Foundation und andere Institutionen des Globalismus ausgebildete“ Individuen übernommen werden, spekuliert Jeszenszky.
András Bencsik, Chefredakteur von Magyar Demokrata, warnt das Regierungslager vor Selbstgefälligkeit. Selbst die kolossale Titanic habe von einem unerwartet aufgetauchten Eisberg versenkt werden können, merkt der regierungsfreundliche Publizist an. Bencsik will die Möglichkeit nicht ausschließen, dass den Oppositionsparteien die Gründung einer Einheitsplattform gelinge. Diese könnte den Fidesz sogar herausfordern – wenn nicht bei den Europawahlen im Frühjahr, dann halt bei den Kommunalwahlen im Herbst. Die Übernahme von Budapest durch die Regierungsgegner könnte dem Zuspruch für eine vereinigte Opposition zusätzlichen Auftrieb verleihen, mutmaßt Bencsik.
Im Interview mit dem regierungskritischen Nachrichtenportal 24.hu gibt Gábor Török zu Protokoll, dass eine Einheitsliste voller Oppositionskandidaten bei den Europawahlen einen Wendepunkt in der ungarischen Politik darstellen könnte. Mit der Regierung Orbán unzufriedene Wähler würden von den Oppositionsparteien ganz eindeutig eine Zusammenarbeit erwarten, hält der gemäßigte Analyst fest. Sollten sie damit scheitern, könnten sie auch das noch verlieren, was von ihrer ramponierten Popularität bislang noch übriggeblieben sei. Sollten sie allerdings ihre Kräfte bündeln und gemeinsam gegen die Regierung antreten, könnte diese nicht länger behaupten, sie sei die zentrale Triebkraft auf der politischen Bühne Ungarns (mit zwei unvereinbaren Lagern zu ihrer Linken und Rechten), so Török.
Auf Alfahír spricht sich Gábor Balogh gegen eine gemeinsame Oppositionsplattform aus. Der Blogger aus dem rechten Spektrum hebt hervor, dass eine einheitliche Liste sämtlicher Oppositionsparteien deren Europawahlchancen nur marginal verbessern würde, da dieser Urnengang stärker am Verhältniswahlrecht ausgerichtet sei als die ungarischen Parlaments- und Kommunalwahlen. Die schweigende Mehrheit hat laut Balogh genug vom Fidesz, wünsche sich aber zugleich keine der linken Parteien der Jahre vor 2010 zurück – am allerwenigsten den ehemaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány, „dem wir nicht nur für die Orbán-Herrschaft, sondern auch für den Sieg der politischen Psychopathie danken können“.
Auch Sándor Révész wendet sich vehement gegen ein umfassendes Zusammengehen sämtlicher Oppositionskräfte. In Heti Világgazdaság äußert der erfahrene Liberale, dass Fidesz und Jobbik gleichermaßen Feinde derjenigen seien, „die in einem zur westlichen Zivilisation gehörigen Ungarn leben möchten“. Jobbik sei sogar eine noch größere Gefahr für „westliche Werte“ als der Fidesz, meint Révész, da die Regierungspartei zur Revision ihrer Haltung bereit sei, sobald ihr das ihre Interessen so diktieren würden. Jobbik dagegen halte dogmatisch an ihren nicht hinnehmbaren Ansichten fest. Révész glaubt auch nicht an das Argument, dass eine an der Regierung beteiligte Jobbik-Partei demokratischer und weniger korrupt sein würde als der Fidesz.
Ervin Tamás wiederum hält die Idee einer Anti-Regierungsplattform bei den Europawahlen für höchst erstrebenswert. Die Zusammenarbeit der Opposition sei ein pragmatischer Deal, eine vorübergehende Allianz verschiedener Parteien, konstatiert der linksorientierte Analyst im Wochenmagazin 168 Óra. Im Falle der Europawahlen würde von den Oppositionsparteien nicht erwartet, dass sie mit einer in sich geschlossenen Vision oder einem kohärenten Regierungsprogramm anträten, notiert Tamás. Ihre tiefgehenden ideologischen Unterschiede würden in diesem Fall die Wähler nicht abschrecken. Allerdings wäre ihr Sieg ein wuchtiger symbolischer Schlag für den Fidesz, betont Tamás.
In ihrem allwöchentlichen Leitartikel verlangt auch Magyar Narancs eine Zusammenarbeit aller Oppositionsparteien. Der Zweidrittel-Erfolg des Fidesz bei den Parlamentswahlen 2018 sei aufgrund „der totalen Unfähigkeit einiger dummer Trottel“ zustande gekommen, die nicht verstanden hätten, dass nur eine breit angelegte Oppositionskoalition den Fidesz hätte stoppen können, so das liberale Wochenjournal, dessen Leitartikler die Hoffnung ausdrücken, dass dieses Mal das „Sklavengesetz“ den Akteuren auf Seiten der Opposition die Einsicht in die absolute Notwendigkeit einer Vereinigung ihrer Kräfte bescheren werde.
Márton Kozák versteigt sich sogar zu der Behauptung, dass eine Oppositionsallianz unter Einbeziehung Jobbiks „von historischer Bedeutung“ wäre. Die Fähigkeit unterschiedlicher Oppositionsparteien zur Zusammenarbeit würde den Wählern verdeutlichen, dass sich die Opposition aus vernünftigen Individuen und Organisationen zusammensetze, notiert Kozák in der Wochenzeitung Élet és Irodalom. Die Oppositionsparteien könnten durch eine lockere Zusammenarbeit bei den Europawahlen ihre unterschiedlichen politischen Identitäten bewahren. Eine Vereinigung gegen die Regierung würde dem Wahlvolk die klare Botschaft vermitteln, dass sie für „den Westen, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Frieden“ stünden, während der Fidesz dagegen „den Osten, Knechtschaft, Diktatur sowie Unruhe“ repräsentiere. Sollte der Fidesz tatsächlich erneut gewinnen, werde Ungarn jede Möglichkeit auf Rückkehr zur „westlichen Zivilisation“ und „Normalität“ verlieren, so Kozáks Prognose.
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