Wochenpresse zu den Europawahlen
27. May. 2019In ihren letzten Ausgaben vor den Wahlen zum Europäischen Parlament äußern verschiedene Wochenzeitschriften teilweise diametral entgegengesetzte Auffassungen über die Politik Ungarns sowie zur Position des Landes innerhalb Europas.
In ihrem Leitartikel fragt Magyar Narancs, ob sich eine Teilnahme an den Wahlen zum Europaparlament für die Opposition überhaupt lohne. Immerhin gehe sie davon aus, dass der Fidesz den Urnengang angesichts unterschiedlicher Rahmenbedingungen „bereits im Vorfeld manipuliert hat“. Andererseits sei die Europawahl sowohl für die Regierung als auch für die Opposition wichtig, glauben die Redakteure des regierungskritischen Magazins. So verliere Ministerpräsident Viktor Orbán unter seinen früheren gemäßigt-konservativen Verbündeten an Einfluss, weswegen er die Unterstützung durch seine heimischen Wähler maximieren müsse. Und mit Blick auf die Kritiker der Regierung schreibt Magyar Narancs: Sie sollten die Wahlen nutzen, um der Welt und sich selbst zu beweisen, dass Ungarn kein exklusives Herrschaftsgebiet des Ministerpräsidenten sei. Gewiss, die Oppositionsparteien hätten das politische Chaos noch zusätzlich dadurch verstärkt, dass sie auf Kosten des jeweils anderen nur ihren eigenen kurzfristigen Vorteil im Auge gehabt hätten, statt sich in einem einzigen Block gegen die Regierung zu verbünden. Dennoch fordern die Redakteure ihre liberale Leserschaft auf: „Vergesst, von den Oppositionsparteien im Stich gelassen worden zu sein, und gebt eure Stimme einer von ihnen!“ Sie selbst würden sich für Momentum entscheiden, aber auch über jede andere Stimme gegen „die Totengräber Europas“ freuen.
„Bei den Europawahlen steht viel auf dem Spiel“, heißt es in einer redaktionellen Einleitung zur Vorwahlanalyse von 168 Óra: Die europäischen Institutionen müssten reformiert werden. Nur dann könnten sie die beispiellosen Herausforderungen, mit denen die Union konfrontiert sei, in Angriff nehmen, argumentiert das Wochenmagazin und zählt einige davon auf: die Konkurrenz aus China, Indien und den USA, globale Krisen wie der Klimawandel oder massenhafte Flüchtlingsströme, darüber hinaus ihre internen Probleme wie die zunehmende soziale Unausgewogenheit. Als Reaktion auf diese Herausforderungen würden einige Mitgliedsländer eine stärkere Integration fordern, während andere ein Mehr an nationaler Unabhängigkeit wünschten. Die ungarische Regierung, so 168 Óra weiter, habe sich auf die Seite derjenigen Parteien geschlagen, die typisch extremistische Lösungen anböten, und befinde sich nunmehr in Gesellschaft von Salvinis Lega, Le Pens Nationaler Sammlungsbewegung und der FPÖ in Österreich, während „sie sich selbst aus dem maßvoll konservativen Bündnis herausgedrängt hat“. Bei dem Urnengang gehe es nun um die Frage, ob die Kräfte der extremen Rechten stark genug würden, um unionsinterne Prozesse blockieren zu können, erklärt 168 Óra. Im Übrigen macht das linksliberale Wochenmagazin hinter den rechten Kräften „den Schatten Russlands“ aus und verweist zur Illustration auf den Absturz des rechtsradikalen österreichischen Vizekanzlers Strache. Damit sei Viktor Orbán ein Akteur auf internationaler Bühne. Ob er aber ein Haupt- oder ein Nebendarsteller sein werde, hänge vom Ausgang der Europawahlen ab, der auch die Zukunft Ungarns in der Europäischen Union beeinflussen dürfte, unterstreicht 168 Óra.
Györgyi Kocsis sieht einen seltsamen Widerspruch zwischen der Neigung der Ungarn, die Europäische Union wertzuschätzen, und der größeren Hälfte des Wahlvolkes, die sich für die regierende Fidesz-Partei entscheide. Jüngste Umfragen würden bestätigen, dass die meisten Ungarn grundsätzlich föderalistisch eingestellt seien, notiert die Mitherausgeberin von Heti Világgazdaság. Mit anderen Worten, sie würden eine noch stärker integrierte Europäische Union befürworten. Beispielsweise würde eine große Mehrheit den Aufbau einer Europäischen Staatsanwaltschaft befürworten und nur eine kleine Minderheit nicht mit dem Beitritt zur Eurozone einverstanden sein. Unterdessen habe über die Hälfte der entschlossenen Wähler gegenüber Meinungsforschern erklärt, sie würden für den Fidesz und sein Programm „ein Europa der Nationen“ stimmen. Nach Ansicht der liberalen Publizistin würde ein solches Konzept einem Rückfall zum Integrationsmodell der 1960er Jahre gleichkommen, das Kocsis für antidemokratisch hält, denn damals habe man nicht für ein Europäisches Parlament stimmen können. „Die Fidesz-Wähler wappnen sich daher für ein Votum mit der Folge, beim nächsten Mal nicht mehr abstimmen zu können”, schreibt sie und fragt sich, wie das wohl möglich sei.
Auf europäischer Ebene handele es sich bei der Wahl um einen Konflikt zwischen Kräften, die Einwanderungsbewegungen entweder befürworten oder ablehnen würden. Dieser Konflikt sei mit einem Kampf zwischen verschiedenen konträren Ideologien verflochten, notiert Miklós Szánthó im Wochenmagazin Demokrata. Doch erkennt der Direktor der regierungsnahen Denkfabrik Alapjogokért (Für Grundrechte) dabei auch eine inner-ungarische Dimension: Es werde nämlich dabei überprüft, ob sich die Ungarn für Stabilität oder für etwas Neues entscheiden würden. Seit 2006 habe der Fidesz alle nationalen Urnengänge gewonnen – insgesamt zehn. Die Wahlen zum Europäischen Parlament könnten der amtierenden Regierung eine zusätzliche Legitimität verleihen und die Botschaft vermitteln, dass der von ihr eingeschlagene Weg entweder richtig oder falsch sei. Szánthó vergleicht die lange Herrschaft der Fidesz-Regierung mit der Amtszeit von Helmut Kohl in Deutschland, merkt jedoch an, dass im heutigen Europa eine solche ungestörte Regierungsdauer einzigartig sei. Der Gastkommentator fordert die Wähler auf, wenn schon nicht für den Fidesz, so doch zumindest gegen die Opposition zu stimmen. Sie habe nämlich ihre Nichteignung zum Regieren unter Beweis gestellt.
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