Streit um das Thema Homosexualität und Kindererziehung geht weiter
19. Oct. 2020Liberale und linke Kommentatoren kritisieren unisono die rechtsradikale Parlamentsabgeordnete Dóra Dúró. Sie hatte jüngst ein Kinderbuch öffentlich geschreddert, das die Akzeptanz von Homosexuellen stärken soll. Konservative Stimmen hingegen fordern die Regierung auf, „homosexuelle Propaganda“ im Bereich der Kindererziehung zu unterbinden.
Dóra Dúró, Vizevorsitzende der rechtsradikalen Partei Mi Hazánk (Unser Vaterland) hatte Ende September ein Exemplar des Buches „Meseország mindenkié“ (Märchenland für alle) medienwirksam durch einen Schredder gejagt. Auf einer Pressekonferenz bezeichnete die Politikerin das Buch als „homosexuelle Propaganda“. Herausgeberin des Buches ist Labrisz, eine Lesbierinnen-Organisation, die das Ziel verfolgt, unter Kindern das Bewusstsein für und die Toleranz gegenüber Homosexualität zu stärken. Meseország mindenkié enthält neun umgeschriebene klassische Geschichten, in denen die Hauptfiguren Minderheitengruppen angehören. So handelt es sich um Schwule, Lesben, Transsexuelle, Roma, Gehörlose oder alte Menschen. In einem Rundfunkinterview hatte sich Ministerpräsident Viktor Orbán dazu wie folgt geäußert: Die Ungarn seien zwar tolerant, „allerdings existiert eine rote Linie, die nicht überschritten werden sollte – lasst unsere Kinder unbehelligt!“ (Siehe BudaPost vom 9. Oktober).
In einem Kommentar für Heti Világgazdaság interpretiert Zsolt Szerekes den Auftritt von Dóra Dúró als intoleranten Angriff auf die Menschenwürde und die Mannigfaltigkeit. Der bekennende Schwule stellt fest, dass Homosexuelle und Personen mit nicht zum Mainstream gehörenden Geschlechtsidentitäten schon in der frühen Kindheit diskriminiert würden, was in vielen Fällen Traumata auslöse. Zudem wirft er der Regierung vor, „eine hasserfüllte Kampagne“ gegen die Homosexualität zu führen. Die Ungarn seien toleranter und integrativer, als der Streit um das Buch „Märchenland für alle“ vermuten ließe, ist Szekeres überzeugt.
In einem weiteren Meinungsbeitrag für HVG360, der Premium-Onlineausgabe von Heti Világgazdaság, wirft Péter Hamvay dem Fidesz vor, Homosexuelle nach dem Ende der Migrationskrise zu seinem Hauptangriffsziel gemacht zu haben. So behauptet der linksliberale Journalist, die Propaganda der Regierung habe Dúró das ideologische Futter zur Vernichtung des Buchs zur Verfügung gestellt. Hamvay glaubt, dass die Regierung früher oder später eine Gesetzesnovelle mit dem Ziel verabschieden werde, die Rechte Homosexueller einzuschränken.
In Magyar Narancs erinnert András Gerevich daran, dass er aufgrund alltäglicher Vorurteile gegenüber dem Phänomen Homosexualität lange Zeit zwei parallele Leben als traumatisierter heimlicher Schwuler geführt habe. Ungarn habe sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert und sei Homosexuellen gegenüber toleranter geworden, notiert der Kommentator. Er schließt mit der Feststellung, dass das Buch mit den Kindergeschichten dazu beitragen könne, Menschen toleranter zu machen und Schwule bei der Überwindung ihres Selbsthasses und der Annahme ihrer eigenen Persönlichkeit zu unterstützen.
Bence Svébis vergleicht Dúrós Aktion mit Bücherverbrennungen unter den Nationalsozialisten. In 168 Óra äußert der linksorientierte Kolumnist die Befürchtung, dass Dúrós Handlung eine breit angelegte Bewegung gegen Homosexuelle auslösen sowie Diskriminierung und Intoleranz in der Gesellschaft verstärken werde.
Auf Vasárnap schreibt Zsolt Ungváry: „Die Überbetonung der Rechte Homosexueller stellt ein Mittel zur Störung der öffentlichen Ordnung dar.“ Der rechtsgerichtete Kolumnist ist der Meinung, dass es sich bei der Homosexualität um eine kleine Subkultur handeln würde und sexuelle Präferenzen Privatsache sein sollten. Ungváry fordert eine „wohlwollende Ignoranz“ in sexuellen Fragen. Es seien Schwulenrechtler gewesen, die mit der Veröffentlichung eines Buches für Kinder den Status quo beendet hätten, betont Ungváry und beklagt: Das stelle eine offene und den öffentlichen Frieden bedrohende Provokation dar.
In Magyar Nemzet weist der konservative Wirtschaftswissenschaftler György Németh darauf hin, dass kein wissenschaftlicher Beweis für eine angeborene Homosexualität existiere. In Ermangelung eines „homosexuellen Gens“ oder eines anderen biologisch bestimmenden Faktors werde Homosexualität mehr durch die Erziehung als durch die Natur bestimmt, meint Németh und behauptet, dass Homosexuelle mit einer höheren Wahrscheinlichkeit an Depressionen und Schizophrenie litten. Wenn Homosexualität zumindest teilweise das Ergebnis soziokultureller Faktoren sei, müssten die Staaten unbedingt für Verhältnisse sorgen, die die Wahrscheinlichkeit verringern würden, dass jemand homosexuell werde, schreibt Németh. Abschließend regt er an, das Engagement zugunsten Schwuler unter Kindern als Pädophilie zu betrachten und es deshalb zur Straftat zu erklären.