Streit um „Homo-Märchen“
9. Oct. 2020Eine linksorientierte Kolumnistin wirft dem ungarischen Ministerpräsidenten vor, er mache sich mit rechten Extremisten gemein, die gegen Homosexuelle mobil machen würden. Eine regierungsfreundliche Stimme dagegen behauptet, dass das, was als Eintreten für die Rechte von LGBTQ beginne, letzten Endes in diktatorische Intoleranz münde.
Die rechtsextreme Parlamentsabgeordnete Dóra Dúró hat jüngst öffentlichkeitswirksam einige Seiten eines Buches geschreddert, in dem klassische Märchen als Geschichten verschiedener Minderheiten erzählt werden. Zu diesen Minderheiten gehören unter anderem auch Schwule und Lesben. Auf die Veröffentlichung angesprochen, erklärte Ministerpräsident Viktor Orbán im staatlichen Kossuth Rádió: Die Ungarn seien zwar tolerant, „allerdings existiert eine rote Linie, die nicht überschritten werden sollte: Lasst unsere Kinder unbehelligt!“ Dúró hatte sich über den Erhalt von anonymen Drohungen beklagt. Andererseits klebten rechtsextreme Aktivisten dieser Tage rote Zettel an die Eingangstüren von Buchläden, auf denen darauf hingewiesen wird, dass in dem jeweiligen Geschäft „kindergefährdende homosexuelle Publikationen verkauft werden“. Der Verband der Verleger und Buchhändler hat mittlerweile gegen diese Kampagne protestiert.
Der Ministerpräsident „musiziert für ein extremistisches Publikum, das ihm sehr am Herzen liegt“, schreibt Judit N. Kósa in Népszava. Die regierungskritische Kolumnistin interpretiert Orbáns Bemerkung von der „roten Linie, die nicht überschritten werden sollte“ als eine Aufmunterung vor dem Hintergrund der „beängstigenden Büchervernichtung“ Dúrós. All dies zeige, dass rechtsextreme Parlamentarier problemlos einen einheitlichen Nenner mit dem Fidesz finden könnten und sie nichts daran hindern würde, gemeinsam im Block abzustimmen, falls die Zwei-Drittel-Mehrheit der Regierung im Parlament schwinden sollte, so Kósa.
In Magyar Hírlap warnt László Bogár vor schleichender LGBTQ-Propaganda als einer Erscheinung, die die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit bedrohen würde. Zunächst träten Aktivisten lediglich als Verteidiger einer Minderheit gegen Verfolgung auf – und das in einem Land, in dem Homosexuelle überhaupt nicht in Gefahr seien. Später jedoch würden sie der Gesellschaft eine neue Sprache aufzwingen, schreibt Bogár und zitiert einen Leitartikel des Wall Street Journal vom vergangenen Juli, in dem das Blatt Amerikas sich ausbreitende Cancel Culture als Terror im jakobinischen Stil definiert.