Rechtsstaatsmechanismus: Brüssel und Budapest weiter auf Kollisionskurs
23. Nov. 2020Kommentatoren loten die Chancen für einen Kompromiss im Streit zwischen Ungarn und Polen auf der einen sowie der Mehrheit der EU-Staaten auf der anderen Seite über die Frage aus, ob Zahlungen der Union an die 27 Mitgliedsländer von der Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien abhängig gemacht werden sollten („Rechtsstaatskonditionalität“).
Die Europäische Union würde nach Ansicht der Leitartikler von Magyar Narancs auf eine massive Krise zusteuern, sollte sie den Forderungen Ungarns und Polens nachgeben, die aus Protest gegen die geplante Verknüpfung von EU-Finanzhilfen mit der Einhaltung von Kriterien der Rechtsstaatlichkeit ihr Veto gegen das Coronavirus-Rettungspaket sowie den nächsten siebenjährigen Haushalt eingelegt hatten.
Lange Zeit habe die Europäische Union diejenigen ihrer Mitgliedsländer im Zaum zu halten versucht, denen Verstöße gegen gemeinsame Grundprinzipien zur Last gelegt würden. Als sie es dann mit einem Tandem solcher Staaten zu tun bekommen habe, sei dieses Problem scheinbar unlösbar geworden, erklärt das liberale Wochenmagazin.
Tatsächlich könnten beide im Europäischen Rat gegen jede den jeweils anderen betreffende Entschließung ein Veto einlegen. Aus diesem Grund hätten EU-Beamte eine Passage im Vertrag von Lissabon ausfindig gemacht, die dem Europäischen Rat die Verabschiedung von Ausführungsbestimmungen beim Haushalt per qualifizierter Mehrheit statt einstimmig gestatte. Mit Hilfe dieser Vertragsklausel habe die Mehrheit der Mitgliedsländer dem so genannten Rechtsstaatlichkeitsmechanismus zugestimmt. Dieses Verfahren, so Magyar Narancs, könne nur bei solchen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit Anwendung finden, die eine korrekte Verwendung europäischer Gelder gefährdeten, könne aber auch dann ausgelöst werden, falls sich die Justiz eines Landes als nicht unabhängig erweisen sollte.
Magyar Narancs vertritt die Auffassung, dass die ungarische Regierung dringend auf europäische Gelder angewiesen sei. Dessen ungeachtet könnte sie die Rechtsstaatskonditionalität als eine ernste Bedrohung interpretieren und somit auf ihrem Veto beharren. Das würde der Europäischen Union Ärger bescheren, aber die liberalen Autoren würden es für viel gefährlicher erachten, falls die EU „ihren Störenfrieden und Rabauken“ gegenüber Zugeständnisse machen sollte.
In Jelen beschreibt Chefredakteur Zoltán Lakner das Veto der Regierung gegen das Coronavirus-Rettungsprogramm und den Siebenjahreshaushalt als ein gewagtes Spiel, das sich auszahlen könnte, da die südeuropäischen Länder die Hilfsgelder dringend benötigen würden und daher kompromissbereit sein könnten. In der Zwischenzeit könnten diese Mittel auf multilateraler Basis von Freiwilligen bereitgestellt werden. Ein solcher Ausweg jedoch würde das Haushaltsproblem nicht lösen.
Andererseits hätten die den Rechtsstaatlichkeitsmechanismus befürwortenden Mitgliedsländer ihre Entscheidung in Kenntnis der polnischen und ungarischen Veto-Drohung getroffen. Deshalb hätten sie für diesen Fall eine Lösung parat haben müssen. Hätten sie keine, könnte sich „Ministerpräsident Orbáns Kamikaze-Flug“ extrem nachteilig für Ungarn auswirken, warnt Lakner.
Zoltán Kiszelly, der den Standpunkt der Regierung in dieser Kontroverse vertritt, erinnert auf Mozgástér daran, dass Ungarn Bedenken gegen das Coronavirus-Rettungsprogramm geäußert habe, weil es sowohl auf nationaler als auch auf Unionsebene eine weitere Verschuldung nach sich zöge. Dennoch könnte Ungarn diese relativ billige Geldquelle anzapfen, um die Auswirkungen der Pandemie auf die Wirtschaft zu bekämpfen, räumt Kiszelly ein. Allerdings sei nicht hinnehmbar, dass Ungarn unter dem Vorwand eines Mechanismus zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit politischem Druck unterliege.
Ungarn und Polen könnten nach dem Ende der Coronavirus-Krise und der Rückkehr zu ihrer bewährten Wirtschaftspolitik bis zum Ende des Jahrzehnts einen Entwicklungsstand erreichen, bei dem ihr Anspruch auf Struktur- und Kohäsionsfonds der Union wegfallen würde. Mit anderen Worten: Die Gegner einer eigenständigen Politik Ungarns und Polens könnten dann keinen finanziellen Druck mehr ausüben. Aus diesem Grund, so der regierungsfreundliche Politologe, hielten es die Widersacher beider Staaten für dringend geboten, den so genannten Rechtsstaatlichkeitsmechanismus durchzusetzen.
Magyar Nemzet veröffentlicht den vollständigen Text eines Briefes des slowenischen Regierungschefs Janez Janša an den Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel. In ihm kritisiert der Vorsitzende der Slowenischen Demokratischen Partei den so genannten Rechtsstaatlichkeitsmechanismus scharf. Per Definition, so der Ministerpräsident, bedeute Rechtsstaatlichkeit, dass strittige Fragen von unabhängigen Gerichten und nicht von der politischen Mehrheit einer bestimmten Institution entschieden werden müssten. Jedes Mal, wenn ein politisches Organ beginne, seine eigenen Entscheidungen als Ausdruck von Rechtsstaatlichkeit zu betrachten, kehre es der Realität den Rücken zu und messe mit zweierlei Maß, so Janša abschließend.
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