Thema Rechtsstaatlichkeit weiter in der Diskussion
21. Dec. 2020Kommentatoren versuchen, die jüngst erzielte Einigung in der Frage der Rechtsstaatskonditionalität von EU-Finanztransfers an die Mitgliedsstaaten zu deuten. Aufgrund des erzielten Kompromisses hatten Ungarn und Polen ihre Veto-Drohung gegen den Siebenjahreshaushalt der Union sowie das Corona-Rettungsprogramm zurückgezogen.
In der Wochenzeitung Jelen weist Tamás Fóti sowohl die Auffassung zurück, der Deal sei eine große Niederlage für Ministerpräsident Viktor Orbán, als auch die Meinung, Polen und Ungarn hätten einen überwältigenden Sieg errungen. Die beiden renitenten Regierungen hätten zwar wesentliche Änderungen am Prozedere erreicht, aber der Grundgedanke, Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit zu bestrafen, sei nicht verworfen worden.
Fóti erwartet, dass der Europäische Gerichtshof die ungarisch-polnische Klage zurückweisen werde, wonach die Rechtsstaatskonditionalität im Widerspruch zum Vertrag von Lissabon stehe. Sobald dieses Urteil gefällt sei, könne die Europäische Kommission finanzielle Sanktionen verhängen, falls sie ein Mitgliedsland bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit ertappen sollte. Derartige Strafen könnten allerdings nur dann verhängt werden, falls diese Verstöße die ordnungsgemäße Verwendung von EU-Finanztransfers behindern würden.
Die EU-Kommission müsse noch wohl durchdachte Richtlinien erarbeiten, was als Verstoß konkret eigentlich zu gelten habe. Diese müssten dann zu guter Letzt auch noch vom Europäischen Rat abgesegnet werden, erinnert der erfahrene liberale EU-Experte und konstatiert: Dies stelle deutliche Garantien für die Regierung in Budapest dar. Wie auch immer, am Ende des Tages hätten Budapest und Warschau das Junktim aus Einhaltung rechtsstaatlicher Regeln und Überweisungen aus Brüssel akzeptieren müssen, weil ein Veto gegen den Haushalt und das Rettungsprogramm ihnen genauso geschadet hätte wie anderen Mitgliedsländern.
András Bencsik von Demokrata zitiert dagegen George Soros, um zu belegen, dass das gemeinsame Handeln von Ungarn und Polen äußerst erfolgreich gewesen sei. (Der ungarisch-amerikanische Finanzier, dessen Stiftungen mehrere regierungskritische NGOs unterstützen, hatte die Europäische Union scharf dafür kritisiert, dass sie „der Erpressung“ durch die beiden Regierungen nachgegeben habe – Anm. d. Red.)
Zudem verweist Bencsik auch auf den Wirtschaftswissenschaftler Péter Róna, einen entschiedenen Kritiker der Regierung. (Róna hatte im Klubrádió davon gesprochen, dass Viktor Orbán das von Großbritannien stets Gewollte, aber vor dem Austritt des Landes aus der Europäischen Union nicht Erreichte gelungen sei: Nämlich die Anerkennung seitens der führenden Politiker der Union, dass es sich bei der EU um eine Wirtschaftsallianz und nicht um eine politische Gemeinschaft handeln würde – Anm. d. Red.)
Laut Bencsik haben die stärksten Länder in Wirklichkeit erkannt, dass sie die Zukunft der Union gefährden würden, wenn sie keine Kompromisse mit den schwächeren Staaten eingingen. Alles in allem habe die Einigung „dem Soros-Netzwerk“ einen mächtigen Schlag versetzt, denn der von der ungarischen Regierung in Brüssel ausgehandelte Deal werde es ihr gestatten, sich 2022 unter fairen Bedingungen um eine vierte aufeinanderfolgende Amtszeit zu bewerben, gibt sich Bencsik zuversichtlich.
In seinem Leitartikel für das Wochenmagazin 168 Óra weist János Kárpáti jene verbitterten Stimmen aus dem Lager der Opposition zurück, die der Europäischen Union vorwerfen, sie habe die Gegner von Ministerpräsident Orbán verraten. Er nennt diese Klagen bizarr, weil er glaubt, dass Wahlen in Ungarn von den lokalen Kräften gewonnen oder verloren werden müssten. Es sei defätistisch zu denken, die Opposition habe die Wahlen aufgrund des in Brüssel erzielten Deals und der Tatsache, dass die ersten Sanktionen nicht vor 2022 zu erwarten seien, bereits verloren, echauffiert sich der Kommentator, der auch als Redakteur bei Klubrádió tätig ist.
Diejenigen, die Brüssel dafür verurteilen würden, dass es seine Werte vermeintlich aufgegeben habe und sich gegenüber den östlichen Mitgliedsländern rücksichtslos verhalte, hätten in der ungarischen Geschichte zahlreiche Vorgänger: Die hätten ebenfalls irgendein Wunder erwartet, das den Ungarn bei der Lösung ihrer Probleme helfen würde. Aber selbst im Vergleich zu diesen Tagträumern, so Kárpáti, zeigten die Verfechter der Vorstellung, dass ein weiterer Fidesz-Sieg ohne „Hilfe“ aus Brüssel unausweichlich sei, einen beispiellosen Mangel an Selbstvertrauen.
Tags: EU, Polen, Rechtsstaatlichkeit, Ungarn