Die Opposition und die Moral
16. Aug. 2021Vier regierungskritische Wochenzeitungen attackieren oppositionelle Spitzenpolitiker, die in ihren jeweiligen Kampagnen zu moralisch fragwürdigen Methoden gegriffen haben. Allerdings betonen alle unisono, dass sie die aktuell Regierenden diesbezüglich für noch größere Sünder halten.
In Élet és Irodalom missbilligt Chefredakteur Zoltán Kovács Ankündigungen seitens des DK-Vorsitzenden Ferenc Gyurcsány, denen zufolge Fidesz-Politikern Gefängnis drohe, sollte die Opposition die Wahlen im nächsten Jahr gewinnen. Sicher, die Politiker müssten das Wahlvolk erreichen können – und ein Teil davon „will Blut sehen“. Aber ein anderer Teil des Publikums wolle das nicht. Was jedoch noch wichtiger sei: Die Gerichte sollten entscheiden, wer ins Gefängnis kommt, unterstreicht Kovács.
Der Journalist stimmt dem Momentum-Vorsitzenden András Fekete-Győr zu, der Ministerpräsident Orbán und „dessen Bundesgenossen“ als Kriminelle bezeichnet hatte, akzeptiert diese Aussage jedoch nur als politisches Statement. Und so kritisiert er Fekete-Győr für dessen Zusatz, dass lediglich die Anzahl der von ihnen im Gefängnis abzusitzenden Jahre noch nicht feststehe. Laut Kovács ist die Öffentlichkeit über „die allgegenwärtige Korruption“ hinreichend informiert. Folglich sollte die Opposition an ihrer eigenen Schwachstelle arbeiten – nämlich ihrer Wählbarkeit. Sie schulde ihrem eigenen Publikum noch den Beweis, dass sie in der Lage sei, die Regierungsgeschäfte zu übernehmen.
Zoltán Lakner verurteilt Péter Márky-Zay, einen der Kandidaten bei den Vorwahlen um die oppositionelle Spitzenkandidatur, weil er wiederholt „die mögliche sexuelle Orientierung des Sohnes von Ministerpräsident Viktor Orbán öffentlich thematisiert hat“. Der Chefredakteur von Jelen, der sich vor sieben Jahren als schwul geoutet hatte, weist auch die Behauptung Márki-Zays zurück, wonach „der Fidesz die schwulste Partei in Ungarn“ sei: Erstens könne man den Wahrheitsgehalt dieser Behauptung unmöglich überprüfen, vor allem aber trage dieser Diskurs dazu bei, „das Schwulen-Stigma“ aufrechtzuerhalten. Die Erwähnung des Orbán-Sohnes als angeblich schwul sowie die Infragestellung der Liebe des Ministerpräsidenten zu ihm, so Lakner, laufe auf eine fatale Ausdehnung der Privatsphäre hinaus, um sie in politischen Konflikten einzusetzen. Die Regierungsgegner sollten „diese Spirale durchbrechen“ und zeigen, dass sie noch über Skrupel verfügen würden, fordert Lakner.
Der Leitartikel von 168 Óra ist dem selben Thema gewidmet. Dabei erinnert das Wochenmagazin daran, dass 1982 der Spielfilm Egymásra nézve (deutscher Titel: Der andere Blick) von Károly Makk über eine tragische lesbische Liebesbeziehung in den ungarischen Kinos habe gezeigt werden können, ohne negative Emotionen hervorzurufen. Da sich nunmehr Homosexualität zu einem für politische Zwecke eingespannten Thema entwickelt habe, sei zu befürchten, dass sich die Dinge zum Schlechten wenden könnten. (168 Óra erinnert beispielsweise an die Vorschrift, der zufolge Bücher, die mit Homosexualität zu tun haben – d. h. die Sexualität und Homosexualität propagieren oder absichtlich zur Schau stellen – in einem Umkreis von 200 Metern um Schulen und Kirchen nicht verkauft werden dürfen und auch außerhalb dieses Radius lediglich in ungeöffneter Verpackung – Anm. d. Red.) Unter solchen Bedingungen, schreibt die linksliberale Wochenzeitung, habe der Wahlkampf angesichts von Márki-Zays Aussage darüber, wer in der Familie des Ministerpräsidenten schwul sei, „bereits seinen Tiefpunkt erreicht, ohne überhaupt begonnen zu haben“.
In Magyar Hang knöpft sich Balázs Gulyás Ferenc Gyurcsány vor, weil der Chef der Demokratischen Koalition einen wegen Veruntreuung verurteilten Straftäter zum Verbündeten seiner Partei unter der Roma-Volksgruppe ausgewählt habe. In ähnlicher Weise habe auch die Regierungsseite mit Flórián Farkas, dem Vorsitzenden der „Zigeuner-Selbstverwaltung“, einer gewählten Körperschaft mit verfassungsmäßigem Petitionsrecht, ein Kooperationsabkommen geschlossen, obwohl Farkas vom Gericht der Veruntreuung von EU-Finanztransfers im Wert von über einer Milliarde Forint (rund 2,8 Millionen Euro) für schuldig befunden worden sei. Um dem Ministerpräsidenten die unangenehme Szene zu ersparen, habe Parlamentspräsident László Kövér die Vereinbarung in dessen Namen unterzeichnet. Eine „selbstlose Geste“, urteilt Gulyás.
(Orbán Kolompár, der zum DK-Partner Auserkorene, hatte sechs Monate in Haft gesessen, weil er rund 200 Millionen Forint [rund 567.000 Euro] an Subventionen für Roma-Organisationen veruntreut hatte. László Varjú, der stellvertretende Vorsitzende der Demokratischen Koalition, erklärte sich bereit, das Kooperationsabkommen mit ihm zu unterzeichnen – Anm. d. Red.) Eine weitere „schöne Geste“, um dem Parteivorsitzenden Ferenc Gyurcsány einen unangenehmen Augenblick zu ersparen, notiert Gulyás und schlussfolgert bitter: Solche Manöver erweckten für ihn den Anschein, als existiere zwischen dem Fidesz und der Demokratischen Koalition ein offener Pakt der gegenseitigen Unterstützung, denn beide seien zum Überleben aufeinander angewiesen.
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