Die Ukraine-Krise und ihre geopolitischen Auswirkungen
7. Feb. 2022Beobachter aus dem gesamten politischen Spektrum versuchen sich an einer Bewertung der Krise zwischen Moskau und Kiew. Wie könnte sie sich künftig entwickeln und inwieweit auch ihre Auswirkungen auf Ungarn haben?
Ministerpräsident Viktor Orbán unternehme den Versuch, einen neuen Mythos um Russland zu kreieren, mutmaßt János Széky in Élet és Irodalom. Dabei erinnert der Autor daran, dass der Regierungschef 1989 mit einer flammenden Rede auf der politischen Bühne Ungarns erschienen war. (In ihr hatte der junge Orbán den Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn gefordert – Anm. d. Red.) Der liberale Publizist bezeichnet Orbáns Behauptung als anmaßend, er wolle trotz der schlechten Erinnerungen Ungarns an die Sowjetunion gute Beziehungen zum neuen Russland unterhalten und sein Hauptziel in der aktuellen Krise bestehe darin, eine Lösung des Ost-West-Konflikts zu befördern sowie einen neuen Kalten Krieg zu vermeiden. Eine solche Strategie sei zum Scheitern verurteilt, da es sich beim russischen Präsidenten um einen Aggressor handele, der den Frieden in der gesamten Region bedrohe und die Rolle der NATO beim Schutz Ungarns missbillige. Abschließend fragt sich Széky, ob Orbán mit Präsident Putin befreundet sein wolle, weil dieser einige Geheimnisse über ihn kenne – oder aus finanziellem Interesse, oder weil er wiederum ein Bewunderer von Putins antidemokratischer Führung und offener Verletzung des Völkerrechts sei.
Tamás Rónay von Népszava hält fest, dass Ungarn Richtung Osten abdrifte. In den Augen des linken Kolumnisten ist die Behauptung Orbáns absurd, sein Moskau-Besuch sei eine „Friedensmission“ gewesen. Rónay äußert sich beunruhigt über die – seiner Meinung nach – zunehmende Ostorientierung Ungarns, sowohl hinsichtlich der geopolitischen Ausrichtung als auch bezüglich der Mentalität. Den guten Beziehungen Ungarns zu Russland und China stellt er andere Visegrád-Staaten gegenüber, deren nordatlantisches Engagement er als stärker erachtet als das ungarische.
In einem Interview mit Heti Világgazdaság kritisiert Zoltán Sz. Biró Ministerpräsident Orbán, weil er eine abwägende Haltung gegenüber der Ukraine anstrebe. Der liberale Russland-Experte vermutet, dass sich der Ministerpräsident die Möglichkeit offen halten wolle, die Karpaten-Ukraine (auch als „Transkarpatien“ bekannt) zu annektieren, falls die Ukraine von Russland angegriffen werden sollte.
László Domonkos von der landesweit erscheinenden Tageszeitung Magyar Hírlap fordert eine differenziertere Betrachtung Russlands und seines sowjetischen Erbes. Der regierungsnahe Publizist meint, dass die Ungarn im Hinblick auf die UdSSR zu Recht heftige Gefühle überkämen. Doch sei das kein Grund, eine paranoide „Russophobie“ zu befördern. Es sei absurd zu behaupten, dass das sowjetische Erbe von Stalin und Breschnew etwas mit dem von Dostojewski, Solschenizyn und anderer großer Russen zu tun habe. Der seinerzeitige russische Präsident habe sich 1992 bei Ungarn für den „barbarischen imperialen sowjetisch-bolschewistischen Terror“ entschuldigt, erinnert der Autor und ergänzt: Präsident Putin sei bei den ungarischen Wählern einer der beliebtesten ausländischen Politiker, und einige Ungarn in Rumänien hofften sogar, dass Putin Ungarn helfen könne, siebenbürgische Gebiete zurückzubekommen. Domokos schließt mit der Bemerkung, dass diejenigen, die öffentlich eine paranoide Russophobie schüren würden, als aggressive Verrückte behandelt werden sollten.
Frank Füredi sieht die Ukraine-Krise als Vorbote einer Verschiebung der Großmachtdynamik. Auf dem Blog Látószög schreibt der ungarisch-kanadisch-britische Soziologe, Russland habe seinen untergeordneten Status nach dem Kalten Krieg nie akzeptiert und wolle nun seinen globalen Einfluss ausbauen. Da Osteuropa für Russland von strategischem Interesse sei, habe Moskau in der gegenwärtigen Krise vielleicht mehr zu sagen als Washington. Füredi hält es für unwahrscheinlich, dass die Vereinigten Staaten wegen der Ukraine in einen Krieg ziehen würden, konzediert jedoch auch, dass es viele Gründe für Kritik an Russland gebe – u.a. wegen der Behandlung von Dissidenten im In- und Ausland. Dennoch hält er die aktuelle Kampagne gegen Russland für propagandistisch und ideologisch motiviert. Füredi befürchtet, dass die von den westlichen Mächten verfolgte unpragmatische Strategie Russland und China zur Kooperation sowie zur Schaffung eines starken Gegengewichts zur westlichen Hegemonie veranlassen könnte.
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