Perspektiven für die Visegrád-Partnerschaft
18. Apr. 2022Linke und liberale Kommentatoren vertreten die Auffassung, dass der Ukraine-Krieg die Visegrád-Gruppe gespalten und die diplomatischen Beziehungen zwischen Budapest und Warschau abgekühlt habe. Konservative Analysten sind hingegen optimistisch, dass die Gruppe der vier Visegrád-Staaten (V4), der neben Ungarn noch die Slowakei, Tschechien sowie Polen angehören, auch nach dem Ende des Ukraine-Krieges ein wichtiger regionaler Akteur innerhalb der EU bleiben werde.
Ministerpräsident Viktor Orbán werde mit Andauern des Krieges in der Ukraine auf der politischen Bühne Europas zunehmend isoliert, schreibt Zsolt Kerner. Auf dem Nachrichtenportal 24.hu erinnert der linke Kommentator daran, dass die ungarische Regierung nach dem Austritt des Fidesz aus der Europäischen Volkspartei energisch an einer Stärkung des Visegrád-Bündnisses gearbeitet und versucht habe, eine rechtskonservative europäische Plattform zu schaffen, zu der auch die polnische Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), Marine Le Pens Rassemblement National in Frankreich sowie die italienische Lega von Matteo Salvini gehören würden.
Diese Bemühungen seien allerdings an den unterschiedlichen Einstellungen gegenüber Russland gescheitert, so Kerner, der ergänzt: Ungarn sei seit dem Ukraine-Krieg sogar von den Mitgliedern der Visegrád-Gruppe – einschließlich des engsten strategischen und ideologischen Verbündeten von Ministerpräsident Orbán in Polen – für seine halbherzige Unterstützung von Sanktionen gegen Russland scharf kritisiert worden. Ohne Verbündete in der EU sei es unwahrscheinlich, dass Ungarn EU-Mittel erhalten werde. Viktor Orbán hoffe darauf, dass Marine Le Pen die französischen Präsidentschaftswahlen gewinne und damit zu seiner wichtigsten strategischen Partnerin in der EU werde, lautet das abschließende Resümee Kerners.
István Riba von Heti Világgazdaság geht von der Hoffnung Ministerpräsident Orbáns aus, der zufolge die Visegrád-Gruppe als Gegengewicht zum deutsch-französischen „Kerneuropa“ dienen und darüber hinaus zu einem maßgeblichen Akteur zwischen Deutschland und Russland bei der Bestimmung der Zukunft Mittel- und Osteuropas werden könne. Auch der liberale Kolumnist bezeichnet die Unterstützung der ungarischen Regierung für die gegen Russland gerichteten Sanktionen als lasch, was Polen entfremdet und Ungarns diplomatische Position in der EU geschwächt habe. Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Haltungen gegenüber Russland habe die EU das Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Ungarn, nicht jedoch gegen Polen eingeleitet, vermutet Riba.
Auch Balázs Márton von Telex ist der Meinung, dass der Ukraine-Krieg das Visegrád-Bündnis stark belastet und die polnisch-ungarischen Beziehungen strapaziert habe. Die strategische Zusammenarbeit zwischen den Visegrád-Ländern werde aber ungeachtet des diplomatischen Scharmützels weitergehen, glaubt der liberale Analyst und nennt als Beispiel grenzüberschreitende Projekte und den Aufbau einer V4-Kampftruppe. Dennoch ist er der Meinung, dass sich die Zusammenarbeit der Visegrád-Staaten aufgrund fehlender regionaler Institutionen, die bei der Beilegung interner Streitigkeiten helfen könnten, bis zur Beendigung des Ukraine-Krieges nicht wesentlich verbessern werde.
In einem Interview mit Inforádió hat sich Anton Bendarzsevszkij zuversichtlich geäußert, dass die Visegrád-Gruppe trotz ihrer Differenzen im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg eine wichtige Koalition bleiben werde. Der Forschungsdirektor des konservativen Think Tanks Danube Institute bezeichnete die V4 als eines der wichtigsten und einflussreichsten regionalen Bündnisse innerhalb der EU. Bendarzsevszkij zeigte sich optimistisch, dass ihre Mitglieder eine gemeinsame Energiestrategie finden würden, da eine verringerte Abhängigkeit von russischem Erdgas in ihrem gemeinsamen Interesse liege.
Der Ukraine-Krieg habe die diplomatischen Beziehungen zwischen Polen und Ungarn beeinträchtigt, räumt Zoltán Kottász von der Tageszeitung Magyar Nemzet ein. Der regierungsnahe Kommentator weist jedoch darauf hin, dass das Hauptziel des Visegrád-Bündnisses darin bestehe, seine Mitglieder innerhalb der EU zu vertreten, und nicht, als geopolitische Plattform mit einer eigenen Außenpolitik zu dienen. Die Kooperation der V4 werde sich nach dem Ende des Ukraine-Krieges wieder normalisieren, gibt sich Kottász zuversichtlich.
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