Wochenpresse zum Streit um Öl-Embargo
23. May. 2022Der Opposition nahestehende Wochenzeitungen werfen der Regierung ein Paktieren mit dem Kreml vor, wenn sie dem vorgeschlagenen Importverbot von russischem Rohöl ohne nennenswerte Gegenleistungen der Europäischen Union ihre Zustimmung verweigere. Regierungsnahe Kommentatoren hingegen sehen die ungarische Haltung in dieser Frage vom gesunden Menschenverstand vorgegeben.
In einem nicht gezeichneten Leitartikel beschreibt Jelen die Haltung der ungarischen Regierung als ein riskantes Spiel. Es ziele darauf ab, die Europäische Union zur Freigabe von Geldern zu bewegen, die gegenwärtig angesichts ungeklärter Fragen im Bereich Rechtsstaatlichkeit zurückgehalten würden. Die linke Wochenzeitung schließt nicht aus, dass Brüssel der ungarischen Regierung letzten Endes entgegenkommen werde. Jedoch dürfte man Ministerpräsident Viktor Orbán künftig nicht mehr als „verirrtes Schaf“, sondern als „den bösen Geist“ der Europäischen Union betrachten, glaubt Jelen.
In Élet és Irodalom geißelt János Széky die Europäische Union für deren offensichtliche Bereitschaft, zumindest einen nicht unerheblichen Teil der von der ungarischen Regierung geforderten 500 Millionen Euro zu überweisen, um den Ersatz von russischem Rohöl finanziell abzufedern. Wirkungsvollere Sanktionen gegen Russland seien offenbar mit einem Preisschild versehen, nämlich „ein undemokratisches Regime innerhalb der Europäischen Union“ am Leben zu erhalten. Széky räumt jedoch ein, dass dieses Regime „innerhalb seiner eigenen Grenzen friedlich lebt, ohne Menschen zu ermorden oder zu deportieren oder gewaltsam gegen sie vorzugehen oder erneut Gebiete anderer Länder zu besetzen“.
Diana Vonnák bezeichnet die ungarische Position im Hinblick auf die Ukraine als Putin-freundlich. In einem Interview mit dem Wochenmagazin Heti Világgazdaság vertritt die Dozentin für ukrainische Kultur an der St. Andrews University in Schottland die Auffassung, dass die Einstellung der ungarischen Führung gegenüber der Ukraine durch die zugegebenermaßen ungerechte Politik der Regierung in Kiew gegenüber nationalen Minderheiten – einschließlich ethnischer Ungarn – motiviert sei.
Auch 168 Óra kritisiert in seinem Leitartikel die Regierenden für deren „Zögern, sich in dem Konflikt entschlossen an die Seite der Ukraine zu stellen“. Die Autoren erkennen an, dass die neu gewählte Staatspräsidentin Katalin Novák den russischen Angriff klar verurteilt und ihn sogar als Putins Aggression bezeichnet habe. Allerdings interpretiert 168 Óra den Satz von Ministerpräsident Orbán über einen anhaltenden Krieg in der Ukraine mit unbegrenzten amerikanischen Leih- und Leasingwaffenlieferungen dahingehend, dass er zwar auch die russische Invasion verurteile, es sich bei dem, was in der Ukraine geschehe, jedoch um einen russisch-amerikanischen Krieg handeln würde. Das Wochenmagazin verurteilt diese Haltung, da sie der Deutung der „vernünftigen Hälfte der Welt“ fremd sei.
In Magyar Hang verurteilt Balázs Gulyás die Regierung für deren Weigerung, den Patriarchen von Moskau mit Sanktionen zu belegen. Dabei weist er das offizielle Argument zurück, dass man nicht gegen führende Kirchen-Repräsentanten vorgehen sollte. Der Kolumnist bezeichnet Patriarch Kyrill als ehemaligen KGB-Offizier, der den Expansionskrieg gegen die Ukraine aktuell in freundlicher Weise unterstütze. Bei dem Patriarchen handele es sich um einen Multimilliardär, dessen Reichtum aus öffentlichen Geldern stamme und daher zu Recht im Westen eingefroren werden könne, notiert Gulyás.
In seinem regelmäßigen Demokrata-Leitartikel wettert András Bencsik gegen die im Westen angewandte Praxis, die Sanktionen auf die russische Kultur auszudehnen. Und so zeigt sich der Chefredakteur des regierungsnahen Wochenmagazins erleichtert darüber, dass Tschaikowskis Musik auch künftig in ungarischen Konzertsälen erklingen werde. Ansonsten verteidigt er den Widerstand der Regierung gegen ein simples Verbot russischer Erdölimporte, da die ungarischen Raffinerien für die Weiterverarbeitung dieser speziellen Mischung ausgelegt seien. Er prangert die führenden Politiker der Europäischen Union an: Diese würden nicht begreifen, warum Ungarn auf dem gesunden Menschenverstand bestehe oder warum die Ungarn nicht „zu Untergang und Verelendung verdammt“ sein wollten.
In Mandiner weist Gergely Szilvay Spekulationen als abwegig zurück, denen zufolge Ungarn im Ukraine-Konflikt mit Russland sympathisiere und froh sei, von russischen Öl- und Gaslieferungen abhängig zu sein. Der Autor ruft einige Tatsachen in Erinnerung: So habe die Regierung in den letzten zwölf Jahren Pipelines gebaut, um das Land mit seinen Nachbarstaaten zu verbinden; sie habe amerikanische Investoren zur Förderung von Öl und Gas auf ungarischem Territorium eingeladen sowie russische Eigentümer aus dem regionalen ungarischen Öl- und Gasmulti MOL verdrängt – dies alles in einer ganzen Reihe von Maßnahmen mit dem Ziel, die Abhängigkeit von russischen Energielieferungen zu verringern.
Szilvay erklärt den Widerstand der Regierung gegen einen plötzlichen Stopp russischer Öleinfuhren damit, dass ein entsprechendes Embargo nicht nur höhere Preise und weniger Heizenergie bedeuten, sondern die gesamte Volkswirtschaft praktisch zum Erliegen bringen würde. Es sei geschmacklos, dass die westlichen Staats- und Regierungschefs auf die ungarische Haltung mit dem Vorschlag reagieren würden, das Prinzip der Einstimmigkeit im Europäischen Rat abzuschaffen. Das würde die Mitgliedsstaaten letztlich in einfache Verwaltungsbezirke der Europäischen Union umwandeln, schließt Szilvay.
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