Wochenpresse zum Jahrestag des ungarischen Volksaufstandes von 1956
24. Oct. 2022Oppositionsnahe Wochenzeitungen kritisieren jüngste Aussagen von Ministerpräsident Viktor Orbán, der den Krieg in der Ukraine mit der russischen Invasion in Ungarn 1956 verglichen hatte. Ein regierungsnaher Kommentator empfiehlt den Ungarn, sie mögen aus dem Beispiel der Revolution Kraft schöpfen, um die aktuellen Probleme bewältigen zu können.
Im Leitartikel auf der ersten Seite von Magyar Narancs bezeichnet es die Redaktion als eigenartig, dass der Ministerpräsident die russische Invasion der Ukraine mit der Ungarns vor 66 Jahren vergleiche – und zwar mit dem Hinweis darauf, dass „unser Selenskyj“ im Zuge der Revolution von 1956 gehängt worden sei. In seinen Reden zum 23. Oktober habe Orbán in den zurückliegenden Jahren Imre Nagy – den er jetzt „unseren Selenskyj“ nenne – niemals erwähnt. Der Regierung nahestehende Stimmen hätten die Rolle von Reformkommunisten wie Nagy in der Zeit um das Jahr 1956 als marginal beschrieben und sich geweigert, ihn als „Ministerpräsidenten der Revolution“ anzusehen, betonen die Leitartikler des liberalen Wochenmagazins.
In Jelen blickt die liberale Soziologin Mária Vásárhelyi auf die Wahlnacht vom vergangenen April zurück. Seinerzeit habe der Ministerpräsident darauf hingewiesen, dass es sich beim ukrainischen Präsidenten um einen der Kritiker seiner Politik handele, seine Regierung jedoch ungeachtet der Attacken Selenskijs wiedergewählt worden sei. Nunmehr, im Rahmen eines Gesprächs mit deutschen Journalisten in Berlin, habe Orbán das Heldentum der Ukrainer gepriesen und einen positiven Ton mit Blick auf Selenskyj angeschlagen. Die vehemente Regierungskritikerin fragt sich, wie es den Fidesz-Getreuen wohl gelingen werde, diese Kehre bei der Beschreibung der Entwicklungen in der Ukraine nachzuvollziehen.
In einer noch bissigeren Kolumne für Heti Világgazdaság macht sich Árpád W. Tóta über die Auffassung Viktor Orbáns lustig, der zufolge sofort Friedensgespräche zwischen den Vereinigten Staaten und Russland über die Ukraine beginnen sollten. Mit einer gehörigen Portion Sarkasmus behauptet er, eine Notiz des Ministerpräsidenten veröffentlichen zu wollen, der – mit seinen Worten – die Entscheidung der Vereinigten Staaten von 1956 gutheiße, „Ungarn im Stich zu lassen“, anstatt dem Land Waffen zu liefern, um den ungarischen Widerstandskämpfern zu helfen. Denn in diesem Fall, so parodiert Tóta die Haltung der Regierung zur Ukraine, hätten sie das Töten nur verlängert.
Milán Constantinovits beschreibt bei Mandiner, wie seine Familie die Lasten von Verfolgungen nach dem russischen Einmarsch im November 1956 zu tragen gehabt habe: Ein Verwandter sei bei den Kämpfen ums Leben gekommen, ein anderer habe seinen Arbeitsplatz in der Forschung aufgeben müssen, weil er das Revolutionskomitee in einer Klinik geleitet habe. Die Wende, so der Autor, habe den Ungarn eine Illusion unendlicher Freiheit beschert, während sie sich in Wirklichkeit alsbald im Fokus neuartiger Kräfte wiedergefunden hätten – darunter die jüngste Pandemie, die aktuelle Energiekrise und der Krieg in einem Nachbarland. In der Zwischenzeit, so Constantinovits weiter, sei die Welt mit einem „gnadenlosen“ Klimawandel konfrontiert, und Europa befinde sich mitten in einer sein Immunsystem schwächenden Identitätskrise. Seiner Meinung nach ist ein Überleben als Ungarn und Europäer nicht ohne Mühen und Kämpfe möglich.
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