Wochenpresse zur möglichen Strategie von Regierungschef Orbán
16. Jan. 2023Linke und liberale Stimmen gehen davon aus, dass sich der Ministerpräsident von der westlichen Allianz, zu der auch Ungarn gehört, abwenden wolle. Regierungsnahe Kommentatoren dagegen pflichten Orbáns Ansicht bei, der zufolge die internationale Arena zunehmend von Gegensätzen zwischen starren Blöcken geprägt sei.
Szabolcs Szerető ist mit dem Ministerpräsidenten einer Meinung: Für Ungarn bleibe es wichtig, auf internationaler Ebene multilaterale Beziehungen aufzubauen. Allerdings sei es offensichtlich, so der Autor in Magyar Hang, dass die ungarische Wirtschaft nur innerhalb der westlichen Welt und ihres Bündnissystems zu den fortgeschritteneren Ländern werde aufschließen können. Die Suche nach alternativen Lösungen erscheint Szerető als aussichtslos. (Zu den Ansichten Orbáns über die Stellung Ungarns in der Welt: siehe BudaPost vom 10. Januar.)
In einem Leitartikel auf der Titelseite von Élet és Irodalom veranschaulicht János Széky am Beispiel des Krieges in der Ukraine seine These, der zufolge die Strategie des Ministerpräsidenten unrealistisch sei, wolle sie doch miteinander nicht vereinbare Ziele erreichen. Einerseits verstehe die ungarische Führungselite unzweideutig, dass der Krieg in der Ukraine das Ergebnis einer russischen Aggression sei, wie Ministerpräsident Orbán und Präsidentin Novák erklärt hätten. Andererseits könne es sich die Regierung aus „wirtschaftlichen Erwägungen“ nicht leisten, die Beziehungen zu Moskau zu beschädigen. Gleichzeitig werde Ungarn als Mitglied der Europäischen Union von Russland offiziell als eines der „unfreundlichen Länder“ eingestuft. Diese Widersprüche seien nur äußerst schwer aufzulösen, unterstreicht Széky.
Nach Ansicht von Árpád W. Tóta würde die Strategie des Ministerpräsidenten nur dann Sinn ergeben, falls sich Ungarn zu einem Austritt aus der Europäischen Union entschließen sollte. Das jedoch, so der Kolumnist von Heti Világgazdaság, sei nicht der Fall. Die Vorstellungen Orbáns, Ungarn in eine Mittelmacht zu verwandeln, die irgendwie zu keinem der potenziell aufeinanderprallenden Blöcke gehöre, seien daher im Moment nichts weiter als „Fieberfantasien“.
Magyar Narancs dagegen interpretiert die Worte des Ministerpräsidenten als Absicht, die Europäische Union tatsächlich zu verlassen. In der Überschrift der Titelgeschichte des liberalen Wochenmagazins wird suggeriert, „dass sich Orbán auf dem Weg raus aus der Union“ befinde. Der Regierungschef wisse, dass er die von der EU festgesetzten Rechtsstaatlichkeitskriterien nicht erfüllen und sein Land deshalb endgültig von den EU-Geldern abgeschnitten werde, heißt es in einem der beiden Leitartikel der aktuellen Ausgabe. Der nächste Schritt wird nach Ansicht der Leitartikler der „Huxit“ sein.
Von Viktor Orbán in die Golfstaaten sowie nach China entsandte Beauftragte hätten versucht, alternative Finanzquellen für Ungarn ausfindig zu machen, falls die europäische Finanzierung dauerhaft ausgesetzt werden sollte, behauptet der linke Europaabgeordnete István Ujhelyi in Jelen. Seinen Angaben zufolge hat er Kenntnis von „sehr ernsten“ Spannungen innerhalb der Regierung. Demnach würden Finanzminister Mihály Varga und der für die Gespräche mit der Europäischen Union zuständige Minister Tibor Navracsics versuchen, Orbán von der Notwendigkeit zu überzeugen, den von der Europäischen Union gestellten Anforderungen nachzukommen, damit Ungarn die EU-Finanzierung nicht verliere. Ujhelyi vermutet allerdings, dass der Ministerpräsident die Suche nach alternativen Finanzquellen noch nicht aufgegeben habe.
Anton Bendarzsevszkij hält die Vorstellung, dass sich in der Welt zunehmend starre Blöcke gegenüberstehen, für nachvollziehbar. In einem Mandiner-Artikel stimmt der Experte für die Staaten der ehemaligen Sowjetunion mit dem Ministerpräsidenten auch darin überein, dass der schroffe Gegensatz der verfeindeten Blöcke im kommenden Jahrzehnt für Ungarn nichts Gutes verheißen werde. Bendarzsevszkij befürchtet sogar, dass die Blöcke inkompatible technologische Systeme einführen könnten und damit der Austausch zwischen ihnen äußerst schwierig werde.
Ein Beispiel dafür, was eine in gegensätzliche Blöcke zerteilte Welt für Ungarn bedeuten könnte, gibt Zsolt Hárfás vom Wochenmagazin Demokrata. So werde es für die europäischen Länder zunehmend schwieriger, mit Russland im Bereich der Kernenergie zusammenzuarbeiten. Seiner Meinung nach hat das amerikanische Unternehmen Westinghouse den Wettbewerb mit dem russischen Konkurrenten Rosatom verloren. Nun aber stünden die Staaten unter einem politischen Druck mit dem Ziel, dessen ungeachtet amerikanische Atomtechnologie zu nutzen. Westinghouse habe Kernbrennstoff für tschechische, ukrainische und finnische Kernkraftwerke russischer Bauart geliefert, doch hätten sich ihre Uranbrennstäbe – obwohl teurer als die russischen – als qualitativ minderwertig erwiesen. Die drei Länder seien zu russischem Brennstoff zurückgekehrt, allerdings nehme der Druck auf europäische Staaten zu, mit Westinghouse und nicht mit Rosatom zusammenzuarbeiten, notiert Hárfás. (Übrigens plant Ungarn den Bau von zwei neuen Kernkraftwerksblöcken im Rahmen eines Vertrags mit dem russischen Unternehmen – Anm. d. Red.)
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