Wochenjournaille zur ungarischen Haltung gegenüber der Ukraine und der Nato
24. Jul. 2023Oppositionsnahe Kommentatoren konstatieren, dass auf Seiten der Regierenden Divergenzen bezüglich der Einstellung gegenüber der Ukraine zu erkennen sind. Regierungstreue Kolumnisten wiederum glauben, dass die Fortsetzung des Krieges für beide Seiten sinnlos sei.
In einer Kolumne für Élet és Irodalom weist Lajos Csepi darauf hin, dass ein prominenter Außenpolitikexperte des Fidesz offenbar Ansichten zum Thema Ukraine vertrete, die im Widerspruch zu den Positionen von Ministerpräsident Orbán stünden. (In einem Radiointerview anlässlich des jüngsten Nato-Gipfels in der litauischen Hauptstadt Vilnius hatte Zsolt Németh – acht Jahre lang Staatssekretär im Außenministerium und seit neun Jahren Vorsitzender des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten des Parlaments – das Nordatlantische Bündnis dafür gelobt, dass es „gut“ auf die Entwicklungen des Krieges in der Ukraine reagiert habe. Die auf dem Gipfel verabschiedete Abschlusserklärung bezeichnete er als einen „großen Schritt in Richtung Frieden in der Ukraine“ – Anm. d. Red.) Im Gegensatz dazu, so Csepi, habe der Regierungschef den Mitgliedern seines Kabinetts erklärt: „Die Westler wollen den Krieg; die Anzahl und der Anteil der Kriegsbefürworter ist erdrückend.“ Einer der beiden Politiker sollte zurücktreten, schlussfolgert der Autor, der Mitte der 1990er Jahre Chef der Privatisierungsagentur war und jetzt regelmäßig für die liberale Wochenzeitung schreibt. Csepi macht keinen Hehl daraus, an wen er dabei denkt, und empfiehlt, dass sich derjenige, den er gerne von der politischen Bühne entfernt sehen würde, in Zukunft darauf beschränken sollte, die Sportmeldungen in den Zeitungen zu lesen.
Im Wochenmagazin Heti Világazdaság zitiert István Riba eine weitere Äußerung Némeths, die er als kaum verborgene Kritik an der von der Regierung betriebenen Politik interpretiert. (In einem kürzlich erschienenen Artikel auf dem Portal Országút warnte der Chef des parlamentarischen Außenpolitikkomitees davor, dass Ungarn das Vertrauen seiner westlichen Alliierten verlieren könnte, die „alles durch die Brille der russischen Aggression gegen die Ukraine betrachten“. Das könne für die Strategie Ungarns, zu den Industrieländern aufzuschließen, äußerst gefährlich werden, warnte Németh und forderte, sein Land möge eine strategische Partnerschaft mit der Ukraine etablieren, während diese „einen heldenhaften Kampf für die Freiheit führt, um ihre okkupierten Gebiete zurückzugewinnen“ – Anm. d. Red.) Riba geht nicht davon aus, dass Németh den Ministerpräsidenten wird überzeugen können. (Mittlerweile wurde der Artikel von Zsolt Németh – nicht jedoch die Überschrift – von der Országút-Webseite entfernt.)
Der prominente liberale Analyst Péter Krekó kritisiert die Politik von Ministerpräsident Orbán in internationalen Fragen und bezeichnet sie als grundsätzlich falsch. Seine in den vergangenen zehn Jahren betriebene „Ostöffnung” habe auf der falschen Annahme des Niedergangs des Westens gegründet, so Krekó in der Wochenzeitung Jelen. Gleichzeitig habe Orbán geglaubt, die Anwesenheit deutscher Investoren in Ungarn würde ihn vor der Ausgrenzung seitens der Europäischen Volkspartei schützen. Das jedoch habe lediglich eine gewisse Zeit funktioniert, dann sei er zum Verlassen der Mitte-Rechts-Fraktion gezwungen gewesen. In ähnlicher Weise, so Krekó weiter, habe der Ministerpräsident das Verteidigungspotenzial der Ukraine und die Einigkeit des Westens bei der Unterstützung Kiews unterschätzt. Diese Rückendeckung beruhe auf der moralischen Empörung über den russischen Angriff. Ungarn werde, falls es diesem Beispiel nicht folge, mit ernsthaften Konsequenzen für seine internationale Position rechnen müssen, und zwar mit einer immer deutlicheren Marginalisierung in den internationalen Beziehungen.
In seinem wöchentlichen Demokrata-Leitartikel vertritt András Bencsik die Ansicht, dass die Nato und die Vereinigten Staaten den Krieg in der Ukraine nicht gewinnen könnten, weil Russland zu stark sei, um besiegt zu werden. Die einzige Frage lautet nach Einschätzung des Publizisten, ob der künftige Waffenstillstand oder die Waffenruhe eher dem chaotischen Rückzug aus Afghanistan ähneln oder würdigere diplomatische Gespräche nach sich ziehen werde.
Bencsiks Bruder Gábor – ebenfalls ein altgedienter Journalist, der moderatere Ansichten als sein Bruder András vertritt und mit einer wöchentlichen Kolumne in Demokrata vertreten ist – meint, der Krieg werde zu Ende gehen, wenn die USA die derzeitigen Frontlinien als eine „möglicherweise vorübergehende“ Grenze zwischen Russland und der Ukraine akzeptieren würden. Sicher sei, dass die Kämpfe letztendlich eingestellt würden, wobei Kiew schmerzliche territoriale Verluste werde hinnehmen müssen. Die Ukrainer würden sich mit der Möglichkeit trösten, sich endlich dem Westen, einschließlich der Nato, anzuschließen, während Russland, obwohl es Gebiete gewinne, für lange Zeit von der westlichen Welt ferngehalten werde, sagt Gábor Bencsik voraus.
In Mandiner äußert György Kerekes die Hoffnung, dass Ungarn einen Weg finden könnte, von seiner unabhängigen Haltung zur Ukraine zu profitieren. So wie es Jugoslawien gelungen sei, als eine der führenden Nationen der Gruppe der blockfreien Staaten seine gleichermaßen guten Beziehungen zum Osten und zum Westen zu nutzen, müsse auch Ungarn seinen Spielraum in einer von den Supermächten und ihren Verbündeten dominierten Welt behaupten, so Kerekes.
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