Wochenpresse zur Polen-Wahl und 1956-Jahrestag
23. Oct. 2023Die revolutionären Ereignisse vom 23. Oktober 1956 hatten begonnen, als es auf den Straßen der ungarischen Hauptstadt zu Solidaritätsbekundungen mit dem antikommunistischen Aufstand im polnischen Posen gekommen war. Für eine kurze Zeit lagen die beiden Völker auf einer Wellenlänge. Aktuell ist das nicht mehr der Fall, denn die polnischen Verbündeten von Ministerpräsident Viktor Orbán verloren bei den Wahlen am vergangenen Sonntag ihre absolute Mehrheit.
Zu den Parlamentswahlen in Polen schreibt Mátyás Kohán in Mandiner: Die neue polnische Regierung dürfte zwar aus Verbündeten des europäischen Mainstreams zusammengesetzt sein, jedoch werde der konservative Präsident Andrzej Duda noch fast zwei Jahre im Amt bleiben und könnte ihnen das Leben schwer machen. So könnte er Gesetze mit einem Veto blockieren, die die umstrittenen Reformen der vorherigen Mehrheit rückgängig machen würden. Dieses Veto würde dann eine Zweidrittelmehrheit in der gesetzgebenden Körperschaft erforderlich machen, um überstimmt zu werden. Die neuen Machthaber verfügten jedoch nur über eine einfache Mehrheit im Parlament, erinnert Kohán.
András Bencsik hat nach eigener Aussage „Grund zum Weinen und zur Freude zugleich“, da die Verbündeten der ungarischen Regierung eine relative Mehrheit errungen haben, sich aber in der Opposition wiederfinden würden. In Ungarn werde dagegen „das Lager der Patrioten“ von der Hälfte der Wählerschaft oder sogar mehr unterstützt. Solange dieser „Kern“ zusammenhalte, schreibt der Publizist in Demokrata, „ist die Einheit Ungarns unerschütterlich“. Er selbst hoffe, dass „unsere polnischen Freunde das vielleicht auch erkennen werden“.
In Jelen vertritt Ákos Tóth die Ansicht, dass Ministerpräsident Orbán allen Grund zur Sorge habe, da ihm sein bisher einziger Verbündeter innerhalb der Europäischen Union abhandengekommen sei. Bei Donald Tusk, dem Vorsitzenden der siegreichen Koalition, handele es sich um einen alten Widersacher des Ministerpräsidenten. Schon lange habe Tusk „vor der Gefahr gewarnt, die Viktor Orbán für Europa darstellt“.
In einem Beitrag für das Wochenmagazin Heti Világgazdaság sagt Árpád W. Tóta voraus, dass die neue polnische Regierung die Freigabe von EU-Finanzmitteln für Polen umgehend erreichen werde. Deren Überweisung sei bekanntlich angesichts von Problemen mit der Rechtsstaatlichkeit, vor allem wegen der Neubesetzung von Richterposten durch die PiS-Regierung, ausgesetzt worden. Jeder mit einem klaren Verstand riskiere keine 100 Milliarden Euro für so eine dumme Sache, gibt der liberale Publizist zu Protokoll und fügt süffisant hinzu: Damit werde Ungarn in der europäischen Turnhalle als der einzig noch verbliebene „Sandsack“ hängen bleiben.
Im ganzseitigen Wochen-Leitartikel deutet Magyar Narancs an, dass das EU-interne Verfahren nach Artikel 7 des Lissabon-Vertrags gegen Ungarn reaktiviert werden könnte, da die polnischen Verbündeten der Regierung in Budapest nicht mehr im Amt seien. Das Verfahren sei ins Stocken geraten, weil ein einstimmiges Votum aller übrigen Länder erforderlich wäre, um einem Mitgliedsland sein Stimmrecht wegen Nichteinhaltung rechtsstaatlicher Werte zu entziehen. Polen hätte ein solches Votum gegen Ungarn blockiert, erinnern die Redakteure des liberalen Magazins.
In Magyar Hang lobt Zsombor György die polnische Opposition, sei es ihr doch gelungen, ein Bündnis zu schmieden, das die amtierende rechte Regierung habe besiegen können – im Gegensatz zu ihren ungarischen Kolleginnen und Kollegen, fügt er hinzu. In Ungarn, so György weiter, existiere keine einzige Oppositionspartei, die die ländlichen Gebiete und deren Bevölkerung glaubwürdig vertreten könnte. Junge Menschen wären offen für Veränderungen, aber Momentum, die Partei, die sie vertreten sollte, sei dabei, auch nur die geringste Chance auf Mobilisierung der jungen Wählerklientel zu verspielen, weil sie sich einen Vorsitzenden gewählt habe, der für diese Aufgabe völlig ungeeignet sei.
Zum 67. Jahrestag des Volksaufstandes von 1956 wiederum äußert sich Milán Constantinovit im Wochenmagazin Mandiner. In seinem Leitartikel in der letzten Ausgabe vor dem 23. Oktober heißt es: Angesichts des Jahrestages könne sich Ungarn nicht mit dem bisher Erreichten zufrieden geben, da es nach wie vor seien Kampf um Befreiung führe. Das Land ringe um Selbstbestimmung in einer Union, die die nationale Identität negiere, es kämpfe um Normalität gegen einen Zeitgeist, der traditionelle Werte untergrabe, und es setze sich gegen die Meister des Kriegswahns für Frieden ein. Zu allem Überfluss würden diese Ziele von den Linksliberalen im eigenen Land nicht geteilt, beklagt Constantinovits. Dennoch hält es der Kolumnist für eine Pflicht, die von den Revolutionären des Jahres 1956 begonnene Arbeit zu Ende zu führen. „Auch wenn nach Moskau unsere Selbstbestimmung und unsere Kultur nunmehr aus Übersee bedroht werden.“
In der Wochenzeitung Élet és Irodalom beklagt Éva Standeisky, dass sowohl Politiker als auch normale Bürger gleichermaßen kaum Interesse an der 1956er Revolution zur Schau stellen würden. In den letzten zehn Jahren hätten die revolutionären Geschehnisse ihre Legitimationsfunktion für das politische Regime eingebüßt, während in der Bevölkerung kein nennenswerter Bedarf bestehe, die Widersprüche, die positiven und negativen Züge der Revolution ans Tageslicht zu bringen und daraus zu lernen. Im Falle eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs oder einer Bedrohung aus dem Ausland könnte die Erinnerung an 1956 wieder aufleben und zu einem wichtigen Element werden, das die nationale Identität und den sozialen Zusammenhalt stärke, meint die altgediente Historikerin.