Wochenpresse zur Machtverteilung bei den Linken
10. Jun. 2019Ein rechtsorientierter Analyst fragt sich und seine Leser, ob es der Fidesz – wie bereits vor zehn Jahren – erneut mit einem einzigen linken Gegner zu tun bekommen werde. Außerdem: Könnte Momentum zu einer Art liberaler Pol auf der innenpolitischen Bühne Ungarns werden? Darüber denken einige linke Kommentatoren nach.
Zoltán Kiszelly geht davon aus, dass sich der Fidesz ungeachtet seines eindrucksvollen Sieges bei den Europawahlen mit über der Hälfte der abgegebenen Stimmen gegen eine gespaltene Opposition dennoch nicht sicher fühlen könne. Zur Begründung weist der Politologe in der Wochenzeitschrift Demokrata darauf hin, dass der ehemalige Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány – dessen Demokratische Koalition (DK) überraschenderweise mehr als 16 Prozent habe erringen können – nicht nur den größten Teil der ehemaligen am letzten Maisonntag für die DK votierenden Stammwählerschaft der Sozialistischen Partei, sondern darüber hinaus auch liberale Wähler für sich gewinnen wolle. Das so genannte zentrale Machtgefüge, innerhalb dessen die regierende Fidesz-Partei mit einer gegenseitig nicht kompatiblen linken und radikal-rechten Opposition konfrontiert gewesen sei, habe dem Fidesz bei den letzten drei Urnengängen leichte Siege beschert. Seit sich Jobbik jedoch in die politische Mitte bewegt habe, verliere die einst rechtsextreme Partei immer mehr an Unterstützung. Daher könnte Ungarn das für das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends charakteristische und im Wesentlichen aus zwei Parteien bestehende System für sich wiederentdecken, spekuliert Kiszelly.
In einer Analyse für Hetek weist Gábor Gavra darauf hin, dass Jobbik nicht die einzige Partei gewesen sei, der das Wahlvolk eine brutale Niederlage beigebracht habe. Die LMP, ebenfalls eine Partei, die sich als Alternative zur althergebrachten Links-Rechts-Rivalität verstanden habe, sei bei der Europawahl nahezu ausgelöscht worden. Es habe den Anschein, als gäbe es außerhalb der regierenden Kräfte samt ihrer traditionellen Gegner keinen Platz für eine Alternative. Obwohl Momentum ursprünglich als etwas im Vergleich zu den bestehenden Parteien komplett Andersartiges begonnen habe, sei die Neugründung mit Blick auf die im Herbst anstehenden Kommunalwahlen nunmehr doch Bestandteil des linken Oppositionsbündnisses. Die daran beteiligten Parteien hätten der LMP für jeden der 23 Budapester Stadtbezirksräte die Nominierung von nur einem einzigen Kandidaten angeboten – eine Bezirksbürgermeisterkandidatur sei gar nicht erst vorgesehen gewesen. Im Gegenzug habe LMP alle Kandidaten der Opposition unterstützen sollen. Mit anderen Worten: Die Linksopposition weise der LMP die Rolle einer unbedeutenden Randerscheinung zu, notiert Gavra.
Für Magyar Narancs wiederum bestand die Novität bei den Wahlen zum Europäischen Parlament in dem überraschend guten Abschneiden von Momentum mit dessen knapp zehn Prozent Stimmenanteil. Im Leitartikel beschreibt das liberale Wochenmagazin den Erfolg von Momentum als einen Beweis dafür, dass der Liberalismus wie auch die Linke Konstanten der ungarischen Parteienlandschaft seien. Die Redakteure gehen davon aus, dass die Demokratische Koalition der MSZP die Führungsrolle bei den Linken endgültig aus den Händen genommen habe. Zugleich werfen sie den Sozialisten vor, in ihrer Politik von der amtierenden Regierung beeinflusst zu sein.
In der Wochenzeitung Élet és Irodalom äußert sich die ehemalige Vorsitzende der Sozialistischen Partei, Ildikó Lendvai. Ihrer Ansicht nach hat die MSZP versucht, ihre linke Sichtweise auf die Wirtschaft zu übertragen, während die Demokratische Koalition für einen linksorientierten Ansatz in kulturellen und ideologischen Fragen stehe. Die ungarische Bevölkerung hingegen schätze weitgehend traditionelle linke Ansichten in Fragen der Sozial- und Wohlfahrtspolitik, während sie sich in Sachen Kultur weitgehend konservativ gebe – mit einer klaren Präferenz zugunsten von Recht, Ordnung und Autorität. Aktuell, so Lendvai, würden beide Wahlsieger der Linken, also die Demokratische Koalition und Momentum, hauptsächlich linke Kulturwerte vertreten. Jedoch könne die Linke die rechte Regierung nur dann in die Wüste schicken, wenn es ihren politischen Parteien gelänge, die linken Werte in ihrer Gesamtheit zu repräsentieren.
In Magyar Hang bewertet György Pápai die Wahlergebnisse als Beleg dafür, dass das politische Spektrum für solche Parteien zu polarisiert sei, die sich zum Überleben keinem der etablierten Lager anschließen wollten. Daher fühlten die neuen Akteure den Zwang, Partei zu ergreifen und sich auf ein Bündnis mit der alten Linken einzulassen – was sich katastrophal auf ihre Identität ausgewirkt und ihnen schmerzhafte Wahlniederlagen beigebracht habe. Dennoch gebe es viele Wähler, die offenbar nicht zur Unterstützung der Demokratischen Koalition von Ferenc Gyurcsány bereit seien. Dabei handele es sich um so viele, dass die Linke ohne ihre Unterstützung die Regierung nicht werde besiegen können, glaubt der Kolumnist und fragt, ob sich Momentum eher zum Verbündeten oder zur Konkurrenz der Demokratischen Koalition entwickeln und somit eine Alternative sowohl zur Regierung als auch zur linken Opposition für diejenigen darstellen könnte, die von der Erstgenannten enttäuscht seien und die Letztgenannte nicht mögen würden. Diesem Personenkreis gibt Pápai den Tipp, die Regierung als die zu überwindende und die Demokratische Koalition als eine Einhalt zu gebietende zu betrachten.
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