Streit um Corona-Impfstoff geht weiter
25. Jan. 2021Nach Ansicht linker und liberaler Kommentatoren betreibt die Regierung in unverantwortlicher Art und Weise Propaganda für die Corona-Impfstoffe aus russischer und chinesischer Produktion. Der Regierung nahestehende Kolumnisten dagegen werfen der Opposition vor, den Kampf gegen die Pandemie in der Hoffnung zu behindern, dass mehr Tote sowie eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage ihr 2022 zum Wahlsieg verhelfen würden.
Am Donnerstag hat die ungarische Regierung bekanntgegeben, dass die Verwendung des russischen Sputnik V und des britisch-schwedischen AstraZeneca Corona-Impfstoffs von der Gesundheitskontrollbehörde genehmigt worden sei, während man gleichzeitig noch auf deren Zertifizierung seitens der Europäische Union warte. Am Freitag teilte Außenminister Szijjártó mit, dass Ungarn zwei Millionen Einheiten des russischen Sputnik-V-Impfstoffs gekauft habe. Die Oppositionsparteien hingegen verlangten, dass die Regierung eine entsprechende Genehmigung der EU abwarten sollte.
Laut einer am Donnerstag veröffentlichten Erhebung des ungarischen Zentralamts für Statistik steigt die Impfbereitschaft der ungarischen Bevölkerung stetig an: Mittlerweile lehnt nur noch jeder vierte Ungar eine Impfung rundweg ab. Nach Angaben einer früheren, von der EU-Kommission in Auftrag gegebenen Umfrage, ist Ungarn eines von sieben EU-Staaten mit einer Ablehnungsrate von über 30 Prozent.
András Boda von Népszava wirft Ministerpräsident Orbán vor, die PR als wichtiger zu erachten als die Sicherheit der Ungarn. Der linke Kolumnist vermutet, dass die Regierung den Kauf und die Genehmigung der Impfstoffe beschleunigt habe, um sich als Held im Kampf gegen die Pandemie stilisieren zu können. Die Ungarn hätten jedoch ernsthafte Bedenken gegenüber den chinesischen und russischen Impfstoffen und verlangten mehr Informationen, notiert Boda. Solange die Regierung keine die Skeptiker beruhigenden Beweise vorlege, dürften sich die Ungarn nicht impfen lassen wollen, schlussfolgert Boda.
In einem Kommentar für Élet és Irodalom kritisiert Mária Vásárhelyi die Regierung, weil sie die Einzelheiten der Impfstoff-Kaufverträge nicht veröffentlicht habe. Die linksliberale Soziologin ist der Meinung, dass die mangelnde Transparenz der Skepsis der Impfgegner Vorschub leiste. Bisher habe die Regierung nicht nachgewiesen, dass die russischen und chinesischen Impfstoffe sicher seien, betont Vásárhelyi und bezeichnet es zudem als widerlich, dass Ministerpräsident Orbán die Impfung zur Kritik an der Europäischen Union missbrauche. So behaupte er, dass Israel und Großbritannien beim Impfprozess der EU weit voraus seien. Fidesz-Politiker, die sich noch 2009 damit gebrüstet hätten, eine Impfung gegen die H1N1-Grippe abgelehnt zu haben, würden nunmehr die Opposition bezichtigen, sie verbreite impfkritische Haltungen, echauffiert sich Vásárhelyi.
Die ungarische Regierung schiebe die Schuld für den schleppenden Impfprozess der EU deswegen in die Schuhe, um von der Tatsache abzulenken, dass die ungarische Corona-Sterblichkeitsrate zu den höchsten in der EU gehöre, argwöhnt Zoltán Haszán. Der liberale Analyst vom Nachrichtenportal 444 weist die Ansicht der Regierung zurück, der zufolge die EU bei der Beschaffung und Genehmigung von Impfstoffen schwerfällig agiere. Hätte sich die EU nicht auf einen gemeinsamen Einkauf verständigt, würde Ungarn die Impfstoffe noch später bekommen, vermutet Haszán.
Ottó Gajdics pflichtet der Regierung bei: Das Impfprojekt der EU habe sich als ein katastrophaler Misserfolg entpuppt. Der regierungsnahe Kommentator der Tageszeitung Magyar Nemzet glaubt, dass sich die Impfprozesse in Europa noch mehr verlangsamen würden, da US-Präsident Biden die Impfung der Amerikaner forcieren wolle. Gajdics beschuldigt die Opposition, sie führe eine „Todeskampagne“, wenn sie unterstelle, dass russische und chinesische Impfstoffe unsicher seien. Gajdics geht sogar so weit zu behaupten, dass die Opposition die aus der Anti-Impf-Stimmung resultierende hohe Zahl der Todesopfer nutzen wolle, um der Regierung die Schuld in die Schuhe zu schieben.
In der gleichen Zeitung weist Verfassungsrichter Béla Pokol die These zurück, Ungarn schneide im Kampf gegen das Coronavirus schlechter ab als andere EU-Staaten. Der konservative Jurist behauptet, die Opposition wolle ihre Popularität steigern, indem sie suggeriere, die ungarische Regierung habe beim Schutz von Menschenleben versagt. Er weist auch die Auffassung zurück, die Impfstoffe aus Russland und China seien unsicher. Millionen von Menschen seien mit beiden bereits geimpft worden, erinnert Pokol in diesem Zusammenhang und unterstellt, dass die Opposition den Impfprozess in der Hoffnung verlangsamen wolle, dass sie bei den Parlamentswahlen 2022 umso mehr Chancen habe, je tiefer die Wirtschaft in die Krise gerate.
In einem Artikel für Magyar Hírlap fragt sich Ferenc Brém-Nagy, ob die Oppositionsparteien künftig auch Angela Merkel als Verräterin an der EU bezeichnen würden. Der regierungsfreundliche Kommentator erinnert daran, dass die deutsche Bundeskanzlerin die rasche Zulassung des Impfstoffs Sputnik V gefordert habe, nachdem bekannt geworden sei, die westlichen Impfstoffe würden Europa langsamer erreichen als ursprünglich erhofft. Bedauerlich nur, dass die Opposition eine „alternative Realität“ schaffe und die Coronavirus-Pandemie nutze, um ihre Popularität zu steigern – und zwar mit allen Mitteln, wie Brém-Nagy unterstreicht.
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