Fußball – Politik mit anderen Mitteln?!
28. Jun. 2021Kommentatoren quer durch das politische Spektrum interpretieren den unerwarteten Erfolg und das tragische Ausscheiden der ungarischen Mannschaft aus der Europameisterschaft als politische Allegorie.
Ferenc Kis von Magyar Nemzet meint, Fußball sei ein Indikator für die geistige Gesundheit einer Gesellschaft. Ausschließlich diejenigen Länder, die auf dem Spielfeld erfolgreich seien, verfügten über eine starke nationale Identität, glaubt der regierungsnahe Kolumnist und erinnert an 1954: Nach dem damaligen Sieg der Nationalelf bei der Fußballweltmeisterschaft habe Deutschlands Nachkriegsdemütigung zu vernarben begonnen. Ungarns Unentschieden gegen Deutschland bei der EURO 2020 letzte Woche deute darauf hin, dass sich die deutsche Mannschaft nicht stark mit der nationalen Sache und ihrem eigenen Land identifiziert habe, während die ungarische Elf Entschlossenheit an den Tag gelegt habe. Für Kis war dieses Spiel ein Anzeichen dafür, dass die deutsche Nationalidentität samt den Werten des Landes durch aktuelle politische Erwartungen verwässert worden seien: nämlich für diese oder jene Minderheit oder Homosexuelle auf dem Spielfeld stehen zu sollen. Kis schließt mit der Vermutung, dass im Falle eines Wahlsiegs der Opposition im Jahr 2022 „die nationale Existenz Ungarns gefährdet ist“.
Auch der Chefredakteur von Magyar Demokrata, András Bencsik, wertet das Unentschieden gegen Deutschland als Triumph des Patriotismus und des Miteinanders. Der regierungsfreundliche Publizist glaubt, dass das gute Abschneiden der ungarischen Mannschaft auf den Erfolgen der Regierung Orbán bei der Förderung von Wirtschaft, Kultur und Nationalgefühl beruhe. Sollten die Ungarn den gleichen Nationalstolz und die gleiche Entschlossenheit beim Ringen für eine gemeinsame Sache auch außerhalb des Spielfeldes unter Beweis stellen, werde sich das Land schnell weiterentwickeln. Bencsik hofft zudem, dass die Opposition nach dem guten Abschneiden Ungarns bei der Fußball-Europameisterschaft aufhören werde, die Investitionen der Regierung in Sport und Stadien zu kritisieren.
Nach dem Unentschieden gegen Ungarn „sollten die teutonischen Stämme zurückgehen, ins Feuer schauen und sich fragen“, was wohl mit ihnen passiert sei, empfiehlt Gergely Szilvay. In einem Beitrag für Mandiner vertritt der konservative Autor die Ansicht, wonach die Leistung des Underdogs ein Sieg gegen die deutschen „geistigen Kolonisatoren“ gewesen sei, die Ungarn eine Lektion hätten erteilen und es dafür bestrafen wollen, dass es die nationale Identität verteidigt und sich nicht der Pro-LGBT-Ideologie verschrieben habe.
Im Leitartikel von Élet és Irodalom äußert Chefredakteur Zoltán Kovács die Befürchtung, dass sich die Welt anstelle der starken Leistung der ungarischen Mannschaft auf dem Spielfeld eher an die Proteste von Fans gegen das Niederknien sowie deren Zurschaustellung homophober Gefühle erinnern könnte. Der liberale Journalist beschuldigt die Regierung, sie setze sich verbal für irredentistische, rassistische und homophobe Hardcore-Fans ein, indem sie deren Protest gegen das Knien und das Zeigen von Regenbogensymbolen während der Spiele verteidige.
Der Streit um die regenbogenfarbige Beleuchtung deutscher Stadien sende eine klare Botschaft aus: nämlich dass sich die Ungarn für die Anti-LGBT-Gesetzgebung ihrer Regierung schämen sollten, heißt es in einem Leitartikel auf Seite eins von Magyar Narancs. Das liberale Wochenmagazin findet es empörend, dass die UEFA das Zeigen von Regenbogenfarben an der Außenseite des Münchner Stadions, dem Austragungsort des Spiels zwischen Deutschland und Ungarn, nicht gestattet habe. Magyar Narancs erklärt den Beschluss der UEFA mit der Behauptung, China habe die UEFA (wie auch die ungarische Regierung) „in der Tasche“.
Auf Mérce weist Vanessza Juhász die Erklärung der ungarischen Regierung, Politik sollte aus dem Sport herausgehalten werden, als wohlfeil zurück. Die linke Kommentatorin erinnert daran, dass während des Spiels Deutschland-Ungarn die Nationalfarben (rot-weiß-grün) auf ungarische Stadien projiziert worden seien. Dies stelle einen klaren Akt von Identitätspolitik dar, so Juhász. Folglich könne die ungarische Regierung nicht behaupten, sie halte die Politik aus den Stadien heraus.
András Jámbor wendet sich in einem Facbook-Post an diejenigen Ungarn, die sich über Regierungsbeschlüsse ärgern, Hunderte von Milliarden Forint für Stadien statt für das Gesundheitswesen und den öffentlichen Sektor auszugeben: Sie mögen die Nationalmannschaft nicht hassen. Der alt-linke Journalist und Bewerber um die Spitzenkandidatur der Opposition für das Amt des Ministerpräsidenten bei der Wahl 2022 merkt an, dass nur wenige der Spieler auf dem Feld Absolventen der von „regierungsnahen Oligarchen“ finanzierten Fußballakademien seien.
Tags: EURO 2020, Gesetz, Homosexualität, Identitätspolitik