Nachbeben des Afghanistan-Debakels
30. Aug. 2021Linke und liberale Stimmen vertreten die Auffassung, dass für die Afghanistan-Krise der Westen in seiner Gesamtheit verantwortlich sei. Ein konservativer Kolumnist wiederum meint, dass westliche Normen nicht exportiert werden könnten und die Schaffung multikultureller Gesellschaften auch im Westen scheitern werde.
Die Krise in Afghanistan liege in der Verantwortung des gesamten Westens und insbesondere der NATO-Mitglieder, ist Mária Gál überzeugt. In Népszava erinnert die linke Kommentatorin daran, dass alle NATO-Staaten am Afghanistan-Krieg und an der Ausbildung des afghanischen Militärs beteiligt gewesen seien, also der Soldaten, die das Land kampflos den Taliban überlassen hätten. Niemand habe Bedenken geäußert, als Präsident Trump ein Abkommen mit den Taliban ausgehandelt und den Fahrplan für den Rückzug der USA festgelegt habe. Gál hofft jedoch, dass die Taliban angesichts des Terroranschlags in Kabul den Islamischen Staat als Feind betrachten und versuchen würden, „Teil der zivilisierten Welt“ zu werden. Sollte dies nicht der Fall sein, wäre dies ein Zeichen für die von Islamisten herbeigeführte Niederlage des Westens, so Gál abschließend.
In Heti Világgazdaság wirft Boróka Parászka dem „Westen“ sowie der internationalen Gemeinschaft vor, sie würden die Frauen in Afghanistan nicht verteidigen. Die linksliberale Journalistin befürchtet, dass ähnlich wie beim Völkermord an den Armeniern im Jahr 1915 die emanzipierten, gebildeten, westlich orientierten Frauen zur vorrangigen Zielscheibe der Taliban werden dürften. Der Westen, so Parászka, hätte diesen Frauen schon längst eine Fluchtmöglichkeit ebnen müssen.
Für Dániel Deme von Magyar Hírlap besteht die wichtigste Lehre aus dem Afghanistan-Debakel darin, dass Gesellschaften ohne gemeinsame kollektive Geschichtsvorstellungen auseinander fallen würden. Der konservative Kolumnist vergleicht die Bemühungen, Demokratie nach Afghanistan zu exportieren, mit westlichen Anstrengungen zur Schaffung multikultureller Gesellschaften. In beiden Utopien sollten die Menschen zusammenleben, ohne gemeinsame Überzeugungen und Werte zu vertreten, behauptet Deme. In einem Nebensatz notiert der Autor: „Missionare der offenen Gesellschaft“, denen die Einführung einer solchen offenen Gesellschaft in Afghanistan misslungen sei, würden die Ungarn kritisieren, weil sie deren „Dogmen“ bei demokratischen Wahlen zurückwiesen. Deme fügt hinzu, dass das Anbieten von Asyl für die von den Taliban bedrohten Afghanen einer „kulturellen Zwangsehe“ gleichkäme, die den Afghanen Leid zufügen dürfte.
Magyar Narancs schreibt im traditionellen Leitartikel auf der ersten Seite, dass sowohl die antikoloniale Linke als auch die „kulturrelativistische“ Rechte die afghanische Krise als völliges Scheitern des Demokratie-Exports interpretieren würden. Das liberale Wochenmagazin wirft diesen Kritikern vor, sie würden ihre Augen vor dem unter despotischen Regimes zugefügten Leid verschließen – solange der Westen nur lukrative Geschäfte mit ihnen abschließen könne. Die Leitartikler äußern die Hoffnung, dass die USA und ihre Verbündeten zumindest die kurdische Autonomieregion im Nordirak verteidigen würden. Sie sei die letzte noch einigermaßen demokratische Insel in der Region.
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