Die neue Regierung im Fokus der Wochenpresse
30. May. 2022Nach der kürzlich erfolgten Vereidigung der neuen Kabinettsmitglieder versuchen sich die Wochenzeitungen und -magazine einen Reim auf die Zusammensetzung der neuen Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán zu machen. Darüber hinaus beklagen zwei linke Wochenblätter den traurigen Zustand der Opposition.
Gábor Bencsik führt den vierten massiven Wahlsieg in Folge auf die neue Strategie zurück, die Ministerpräsident Orbán vor zwölf Jahren entwickelt habe. In den 1990er Jahren, so Bencsik in Demokrata, sei es den meisten politischen Kräften ganz offenkundig erschienen, dass Ungarn westlichen Modellen folgen müsse. Mit Hilfe ihrer 2010 erlangten parlamentarischen Zweidrittelmehrheit habe der Fidesz das nationale Interesse an die erste Stelle gerückt, auch wenn dies eine Distanzierung gegenüber westlichen Mustern bedeutet habe. Laut Bencsik mussten die Wähler bei den drei folgenden Wahlen zwischen dieser und der von der Opposition verfolgten und sich an westliche Muster anlehnenden Strategie entscheiden. Letztere habe in der Hauptstadt die Mehrheit errungen, während der Rest des Landes offenbar nicht der von den linksliberalen Budapester Intellektuellen vorgegebenen Position folge, notiert Bencsik.
In ähnlicher Weise erläutert das neue Kabinettsmitglied János Csák, dass Ungarn bei seinen politischen Entscheidungen pragmatisch agieren müsse. So unterstütze er beispielsweise den Plan, in Budapest einen Campus für die Fudan-Universität zu errichten. Warum auch nicht?, fragt der neue Minister für Kultur und Innovation in einem Interview mit Mandiner, wenn doch diese chinesische Hochschule zu den besten Universitäten der Welt gehöre. Ganz allgemein müsse Ungarn Beziehungen zu China anstreben, die auf gegenseitigem Respekt und gutem Willen beruhten, ohne gleichzeitig mit dem Westen zu brechen. „Wir sind Teil des Westens“, erklärt Csák, „könnten aber eine Vermittlerrolle“ zwischen Ost und West übernehmen.
Im Wochenmagazin Magyar Narancs wertet Zsuzsanna Fazekas die Zusammensetzung der neuen Regierung als Ausdruck tiefer Besorgnis über den Zustand der Wirtschaft, denn bei mehreren Ministern handele es sich um Finanzexperten. Dagegen sei das bunte Gemisch des Ministeriums für Humanressourcen zerstückelt worden, so Fazekas weiter. Gesundheit, Soziales und Bildung seien dem Innenministerium zugeordnet worden, während Hochschulbildung, Kultur und sogar die Unterstützung von Familien künftig in die Zuständigkeit des brandneuen Ministeriums für Kultur und Innovation fielen. Es sei besorgniserregend, dass sämtliche Geheimdienste dem Büro des Ministerpräsidenten unterstellt worden seien. Doch weist die liberale Autorin auch darauf hin, dass Viktor Orbán ohnehin die totale Herrschaft über alle Bereiche seiner Regierung ausübe.
In einem Beitrag für Heti Világgazdaság stellt Zoltán Farkas den neuen Minister für Wirtschaftsentwicklung als Initiator der kürzlich erlassenen Preisobergrenze für Treibstoffe vor. Offenbar sei das Einfrieren der Preise für einige Grundnahrungsmittel ebenfalls seine Idee gewesen, vermutet Farkas, der Minister Márton Nagy als jemanden charakterisiert, der eine ungarische Mehrheitsbeteiligung im Lebensmitteleinzelhandel sowie bei Versicherungs- und Telekommunikationsgesellschaften anstrebe. Der liberale Kommentator hält es in der heutigen Zeit für wenig realistisch, wenn ein Minister wie Nagy für eine sich selbst tragende Volkswirtschaft eintrete. Seiner Meinung nach ergeht sich der Minister auch in Tagträumereien, wenn er ein zukünftiges ungarisches Wachstum von 3,5 Prozent über dem europäischen Durchschnitt umreiße, das es Ungarn ermöglichen würde, bis zum Ende des Jahrzehnts das durchschnittliche Pro-Kopf-BIP der EU zu erreichen.
In einem ähnlichen, aber deutlich sarkastischeren Geist macht sich István Váncsa von Élet és Irodalom über eine Prognose von János Lázár lustig. Nach Einschätzung des neuen Ministers für Bauwesen und Investitionen werde Ungarn bis zum Jahr 2030 zu Österreich aufschließen. Váncsa notiert süffisant, dass sich die Ungarn dies seit 600 Jahren vornehmen würden. Der vorerst jüngste Ausdruck dieses Ehrgeizes reiche zum Ende des Jahres 1991 zurück. Damals habe der für internationale Wirtschaftsbeziehungen zuständige Minister erklärt, Ungarn werde Österreich bis 2015 einholen. Váncsa gibt seine eigene Prognose ab und nennt das Jahr 2075 als nächstes Zieldatum, macht jedoch darauf aufmerksam, dass dies keineswegs das letzte sein dürfte.
In ihrem redaktionellen Leitartikel beschreibt 168 Óra den siegreichen ungarischen Ministerpräsidenten als in Europa völlig isoliert. Das Wochenmagazin behauptet, dass sich Viktor Orbán auch gar nicht um die übrigen europäischen Staats- und Regierungschefs kümmern, sondern stattdessen glauben würde, dass er selbst die Europäische Union erneuern werde. Auf der anderen Seite zeichnen die Redakteure auch ein deprimierendes Bild von der Opposition und nennen ihr unterlegenes Wahlbündnis „eine untaugliche Truppe unter Führung eines untauglichen Ministerpräsidentenkandidaten“. Darüber hinaus weigere sich die Opposition nach wie vor, die notwendigen Schlussfolgerungen aus ihrer Serie vernichtender Wahlniederlagen zu ziehen. Die Ungarn müssten ihr Land selbst zu einem besseren Ort machen, heißt es in 168 Óra, denn das könnten sie weder von der Regierung noch von der Opposition erwarten.
Auch der Chefredakteur von Jelen verfügt über kein Rezept, das die Opposition von ihrer chronischen Krankheit heilen könnte. Nach zwölf Jahren Fidesz-Regierung, so Zoltán Lakner, sei die Opposition schwächer und unbedeutender als jemals zuvor. Er könne einfach kein Ende der Fidesz-Herrschaft am Horizont erkennen. Was aber könne die Opposition tun, um sich wenigstens zu konservieren?, fragt Lakner sich und seine Leserschaft. Dies sei nämlich das Maximum, was die linksliberale Strömung zu erreichen vermag. Sie sollte dem Beispiel der ehemaligen antikommunistischen Dissidenten folgen, die Jahrzehnte lang auf bessere Zeiten gewartet hätten, lautet der eher resignierende Ratschlag Lakners.
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