Gegensätzliche Narrative zum Jahr 2022
1. Jan. 2023Ein liberaler und ein rechtsorientierter Autor vertreten diametral unterschiedliche Ansichten darüber, welche Bedeutung das vergangene Jahr für die ungarischen Politik hatte.
Bei HVG zeichnet der ehemalige liberale Spitzenpolitiker Gábor Horn ein düsteres Bild von Ungarn, wobei er in den vergangenen zwölf Monaten lediglich einen einzigen Hoffnungsschimmer habe erkennen können: Die enthusiastische Art und Weise, in der Gymnasiastinnen und Gymnasiasten solidarisch mit den Forderungen ihrer Lehrer demonstrierten hätten (zum Hintergrund siehe BudaPost vom 12. Dezember). Zudem blickt er mit Wehmut auf die kurzzeitige Euphorie unter den Oppositionsanhängern während der Vorwahlen zurück, die 2021 im Hinblick auf die Parlamentswahlen im Frühjahr 2022 abgehalten worden waren. Den Urnengang selbst bezeichnet Horn als eine große Enttäuschung, für die er „die eigennützigen, inkompetenten Oppositionsführer”, aber auch die rücksichtslose Kampagne der Regierenden verantwortlich macht. Darüber hinaus wirft er den Oppositionsführern vor, dass sie es ablehnen würden, aus ihrer vernichtenden Niederlage vom April irgendeine vernünftige Lehre zu ziehen. Der Liberale beklagt die derzeitige politische Situation in Ungarn, in der beide Seiten davon ausgingen, dass die Gegenseite sie vernichten wolle und die politische Auseinandersetzung daher der Logik zwischenstaatlicher Kriege folge. Schließlich kehrt Horn zu seinem Auftaktthema zurück und bezeichnet es als ermutigend, dass junge Mädchen und Jungen sich bereit gezeigt hätten, „für ein besseres Land zu kämpfen“.
In einem ganz anderen Geist konzentriert sich der dem rechten Spektrum zuzurechnende Analyst Ervin Nagy in Magyar Hírlap auf das, was die regierungsfreundlichen Medien als „rollende Dollars“ bezeichnen – also die finanzielle Unterstützung in Milliardenhöhe, die die Organisation des oppositionellen Spitzenkandidaten von einer in den Vereinigten Staaten ansässigen Stiftung erhalten hatte (Einzelheiten dazu siehe BudaPost vom 29. September). Nagy bezeichnet diesen Fall als „das skandalöseste öffentliche Vorkommnis des hinter uns liegenden Jahres“. Die Opposition habe es versäumt, die wichtigste Lehre aus den Ereignissen zu ziehen: dass die ungarischen Wahlen im eigenen Land gewonnen werden müssten. Die Opposition könnte einem „altbekannten Szenario“ folgen, nämlich Chaos zu verursachen und danach die Macht an sich zu reißen, befürchtet Nagy. Allerdings geht er davon aus, dass sie zu schwach sei, um eine solche Strategie zu verwirklichen. „Allerdings kennen sich in das öffentliche Leben Ungarns einmischende Geschäfts- und politische Gruppen aus dem Ausland diese Strategie nicht nur, sondern sind auch in der Lage, sie zu umzusetzen.“ Nagy äußert sich daher besorgt, dass 2023 „(erneut) ein Jahr der Selbstverteidigung wird, in dem der Druck progressiver politischer Kreise im Ausland und in Westeuropa zunimmt”. Unter diesen Bedingungen schließt er Beschwichtigung und Versöhnung aus, denn „Versöhnung käme einer Kapitulation gleich“.
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