Streitigkeiten mit Brüssel im Fokus der Wochenpresse
5. Jun. 2023Wochenzeitungen und -zeitschriften gingen in Druck, noch bevor das Europäische Parlament eine ungarnkritische Entschließung verabschiedet hatte. In ihr wird die Fähigkeit des Landes angezweifelt, in gut einem Jahr die rotierende EU-Ratspräsidentschaft zu übernehmen. Immerhin hielten sämtliche Publikationen den später gefassten Beschluss für gegeben und erörtern dessen Folgen.
Szabolcs Szerető von der Wochenzeitung Magyar Hang beschreibt die Beziehungen Ungarns zur Europäischen Union als eisig. Zwar räumt der Publizist ein, dass die jüngsten im Europaparlament aufgedeckten Korruptionsskandale Zweifel an der Legitimität der Vorwürfe gegen Ungarn aufkommen ließen, dennoch glaubt er, dass sich die Budapester Regierung zu viele Feinde innerhalb der Europäischen Union gemacht habe und folglich für die Aussetzung der EU-Zahlungen an Ungarn verantwortlich sei. Es sei unwahrscheinlich, so Szerető, dass die Wahlen zum Europaparlament im kommenden Jahr eine illiberale Mehrheit hervorbringen werden. Demnach werde Ungarn innerhalb der Europäischen Union künftig noch stärker isoliert sein. Laut Szerető dürften die Entscheidungsträger in der Gemeinschaft kaum geneigt sein, den „Geldhahn“ aufzudrehen. Und die ungarische Regierung scheine auch nicht die Absicht zu haben, die Erwartungen Brüssels komplett zu erfüllen. Da Ungarn in seiner prekären Finanzlage die europäischen Gelder dringend benötigen würde, betrachtet der leitende Redakteur der Wochenzeitung das Risiko eines kompletten Verlustes als einen Testlauf, wie das Land im Falle eines Austritts aus der Europäischen Union regiert werden könnte.
Péter Heil pflichtet der Mehrheit der Europaabgeordneten bei, die Ungarn für die rotierende Präsidentschaft des Europäischen Rates als ungeeignet betrachten. In den letzten vier Jahren habe die ungarische Regierung den dereinst innerhalb der Staatengemeinschaft genossenen guten Willen Schritt für Schritt zerstört und könne daher kaum als ehrlicher Makler bei der Beilegung von EU-internen Meinungsverschiedenheiten agieren, schreibt der Kolumnist im liberalen Wochenmagazin Magyar Narancs. Er verweist auf ein kürzlich vom Europäischen Parlament verabschiedetes Dokument, aus dem hervorgeht, dass das hohe Haus Ungarn nicht einmal mehr für ein freies und demokratisches Land hält. Nicht so sehr die Gefahr für die rotierende ungarische Ratspräsidentschaft im nächsten Jahr sei höchst besorgniserregend, sondern vielmehr ein zunehmend ungünstiger langfristiger Trend, der zum Austritt Ungarns aus der Europäischen Union führen könnte. „Wir haben bereits einen beträchtlichen Teil des Weges zurückgelegt, der zum Austritt führt“, schlussfolgert Heil.
Gábor Bencsik vertritt dagegen die Ansicht, dass Ungarn von den etablierten Kräften innerhalb der Europäischen Union schikaniert werde, weil sich Budapest gegen einen selbstzerstörerischen Prozess wehre. Christentum und Vielfalt seien schon immer die Grundpfeiler von Fortschritt und Wohlstand in Europa gewesen, aber die Jakobiner und Bolschewiken von heute wollten diese beiden Faktoren aus den Köpfen der Europäer verbannen, behauptet der Chefredakteur des Wochenmagazins Demokrata. Sie würden die Religion dem Islam überlassen und die Europäer in eine undifferenzierte Masse auflösen, die ein Imperium bevölkert. Ungarn, so Bencsik weiter, entspreche diesem Trend nicht. Folglich versuchten die herrschenden Kräfte in der Union, Ungarn aus der Gemeinschaft herauszudrängen oder es zumindest zur Wahl einer anderen Regierung zu zwingen. Das werde ihnen nicht gelingen, prophezeit der regierungsnahe Publizist, denn die meisten ungarischen Wähler „haben in den Wahllokalen eher ihre Überzeugungen als ihren Geldbeutel im Kopf“.
In der Wochenzeitung Mandiner reiht Mátyás Kohán die verschiedenen Sanktionen und Drohungen gegen Ungarn innerhalb der Europäischen Union in eine Reihe von Strafen ein, die dem Land im Laufe seiner Geschichte auferlegt wurden – darunter der Friedensvertrag von Trianon nach dem Ersten Weltkrieg, dessen Jahrestag am 4. Juni landesweit alljährlich begangen wird. Auch dieses Mal könnten sich neue Trianons ereignen – „kleinere und größere“. Der kleinste wäre nach Ansicht Koháns die Zurückhaltung von Finanzmitteln zur Bewältigung der Post-Corona-Krise und für den Wiederaufbau. Ein mäßig gravierender Trianon bestünde in der Einschränkung des Vetorechts der Mitgliedsländer innerhalb der Union, während der schwerwiegendste Trianon der Huxit wäre. Ungarn, so warnt der Autor, könne sich keine Fehler in seinen Außenbeziehungen leisten, denn das internationale Umfeld des Landes sei nicht viel Ungarn freundlicher als noch vor einem Jahrhundert.
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