Opposition verliert vor der heißen Wahlkampfphase an Boden
9. Dec. 2013Analysten, darunter selbst solche, die die Leistungen der Regierung gewöhnlich für verheerend halten, glauben, dass die Opposition bei den Wahlen im nächsten Frühjahr kaum eine Chance haben wird.
In seinem Leitartikel auf der Titelseite von Élet és Irodalom greift Chefredakteur Zoltán Kovács die Regierung für ihre Politik an, die seiner Meinung nach die Zukunft ruinieren werde. Der Opposition wiederum wirft er vor, kein zusammenhängendes Programm auf den Weg zu bringen, um „dieser schrecklichen Welt“ etwas entgegenzusetzen. Die wenigen „kursierenden“ Ideen seien zu abstrakt und für die Wählerschaft kaum von Interesse. Das einzige verfügbare Programm sei Ferenc Gyurcsánys 16-Punkte-Dokument, das deshalb diskutiert werden sollte. Oder es sollte ein anderes auf den Tisch gelegt werden, um es zu ersetzen. Bis dahin wüssten die Anhänger nicht, was geschehen würde, „falls die Linke auf wundersame Weise die Wahlen doch gewinnen würde“. Die Sozialistische Partei würde gar kein Diskussionsthema haben, wäre da nicht András Horváth, der Überläufer der Steuerbehörde, mit seiner Geschichte über einen kolossalen Steuerbetrug „aus dem Nichts“ aufgetaucht. Seine Geschichte (vgl. BudaPost vom 29. November und 3. Dezember) reiche jedoch nicht aus, die Sozialisten zu retten, beklagt Kovács.
Auch Gábor Török ist in Heti Válasz davon überzeugt, dass der Steuerbetrugsskandal die Regierung nicht zu Fall bringen werde. Es fehlten zwei Zutaten, um eine wirkliche Explosion auslösen zu können: Einerseits eine schlagkräftige Opposition, die fähig sei, das Thema am Kochen zu halten und um die Geschichte herum Initiativen aufzubauen. Die rechte Opposition sei 1996 selbst nicht stärker gewesen als heutzutage die linke, jedoch habe sie es damals geschafft, aus dem Tocsik-Skandal Kapital zu schlagen. (Die Rechtsanwältin Márta Tocsik vermittelte für eine Privatisierungsagentur und schleuste Hunderttausende Forint in Fonds, die mit den damals regierenden Sozialisten und Liberalen verknüpft waren – Anm. d. Red.) Andererseits vermisst Török auch Fakten und Zahlen. In der Tocsik-Affäre seien diese konkreten Angaben sehr schnell an die Oberfläche gekommen. Im Fall von András Horváth wiederum habe die Öffentlichkeit nur allgemeine Stellungnahmen gehört, wobei entweder Namen oder auch konkrete Zahlen unbekannt blieben.
In seinem regelmäßigen wöchentlichen Kommentar zeigt sich der ansonsten außerordentlich Fidesz-kritisch eingestellte Chefredakteur von Magyar Narancs (Endre B. Bojtár) skeptisch gegenüber Horváths Anschuldigungen. Der ehemalige Mitarbeiter der Steuerbehörde behauptet, dass 1.800 Milliarden Forint an Mehrwertsteuern pro Jahr nicht ordnungsgemäß verbucht würden. Hintergrund sei eine riesige Verschwörung von Steuerhinterziehern und leitenden Beamten. Der erste Einwand des Chefredakteurs bezieht sich auf die Behauptung von Horváth, dieser riesige Betrug würde beim Lebensmittelhandel stattfinden. Eine solche Summe an Mehrwertsteuern würde aber einen Lebensmittelkonsum weit über den bekannten Zahlen bedeuten. Er zitiert ebenso eine aktuelle Analyse der Europäischen Union, wonach die gesamte Diskrepanz im Bereich der Mehrwehrsteuern in Ungarn 1.000 Milliarden betragen würde. Diese Zahlen aber würden alle Bereiche wirtschaftlicher Aktivitäten beinhalten und sich neben der Steuerhinterziehung zudem auf zahlreiche weitere Ursachen wie Steuernachlässe, legale Steueroptimierungspraktiken und Unternehmenskonkurse erstrecken. Doch selbst wenn nur ein Zehntel der Zahlen Horváths Bestand hätte, hält Magyar Narancs deren Veröffentlichung für lohnenswert.
In Népszabadság beschreibt der Soziologe Pál Tamás den langsamen Zusammenbruch der linksliberalen Bewegung in Ungarn als einen Teil des Zerfalls der linken Opposition. Die linksliberale Allianz sei ihm zufolge eine ungarische Spezialität gewesen, ein Produkt der 1990er Jahre, und werde verschwinden, wenn die Generation, die diesen merkwürdigen Pakt zwischen Liberalen und Sozialisten dereinst schmiedete, die öffentliche Bühne verlässt. Die früheren Dissidenten und ihre urbanen intellektuellen Anhänger seien anfangs stark anti-kommunistisch gewesen, hätten aber nach und nach Schutz an der Seite der Sozialisten gesucht, als innerhalb der Rechtsregierung (1991 bis 1994) rechte Diskurse der Vorkriegszeit auftauchten. József Antall, der erste demokratisch gewählte Ministerpräsident, habe es geschafft, den rassistischen Mitbegründer der Partei (MDF – Magyar Demokráta Fórum – Anm .d. Red.) und Schriftsteller István Csurka 1993 aus seiner Partei zu werfen, aber „das war nicht genug, um die urbanen Schichten zu befrieden, inklusive, sprechen wir es offen aus, Menschen jüdischer Abstammung“. 1994 hätten die Sozialisten genug Sitze gewonnen, um selbst regieren zu können. Aber nur wenige Jahre nach dem Fall des Kommunismus hätten sie eine legitimierende Präsenz der ehemaligen Dissidenten in ihrer Regierung gebraucht. Seitdem hätten die Liberalen ihre Autonomie verloren und die Sozialisten seien zu Geiseln der liberalen Meinungsführer geworden. Als sie im Ergebnis ihrer unpopulären liberalen Finanzpolitik mehr und mehr Wähler verloren, hätten die Sozialisten damit begonnen, sich mehr und mehr auf die liberale Medienelite zu verlassen, von deren Unterstützung sie ihre Legitimität bezogen. Nach der krachenden Niederlage 2010, bei denen die Reste der Liberalen Partei zerstört und die Sozialisten in die zweite Reihe verwiesen worden seien, hätten Letztere die liberale Intelligenz nicht mehr länger gebraucht. Die überlebende liberale Medienelite habe zunächst ihre Hoffnung auf rebellische NGOs und dann auf Gordon Bajnai gesetzt, doch seien sie scheinbar von ihm enttäuscht. Ferenc Gyurcsány versuche, die linksliberale Strömung innerhalb seiner eigenen Partei zu institutionalisieren, jedoch scheine er die führenden Liberalen nicht zu überzeugen. Langjährige Leser und Zuschauer könnten die liberale Medienelite möglicherweise noch für eine Weile am Leben erhalten, denkt Tamás, aber die linksliberale Strömung als politische Kraft werde sehr wahrscheinlich verschwinden, wenn die Generation, die sie mit Leben erfüllte, von der Bühne verschwinden werde.
Auf 444 gibt Péter Ujj in einem sarkastischen Beitrag den „großartigen Strategen“ der Linken die Schuld für einen wahrscheinlich haushohen Fidesz-Sieg. Der letzte, schreibt er, sei András Istvánffy, Gründer von 4K! (für Vierte Republik), einer NGO, die zusammen mit Milla (Eine Million für die Pressefreiheit) 2011 die erste große Anti-Regierungsdemonstration auf die Beine gestellt hatte. Istvánffy sei nun der Meinung gewesen, als Ziel für eine Attacke keine der Leuchten der Regierung auswählen zu müssen, sondern Péter Juhász, einen von Gordon Bajnais Mitstreitern bei Gemeinsam 2014. (Der Anführer von 4K! initiierte einen „privaten Flashmob“, rauchte vor dem Budapester Polizeihauptquartier einen Joint und wandte sich mit einem Brief an Juhász, in dem diesem vorgeworfen wird, seinen Kampf für die Legalisierung von Marihuana aufgegeben zu haben. Juhász erwiderte, dass er im Gegensatz zu Istvánffy Marihuana als Droge betrachte, aber beabsichtige, den Gebrauch zu entkriminalisieren.)
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