Bleibt das „Orbán-Regime“ bis 2022?
22. Apr. 2014Bei der Analyse der Wahlniederlage der Linksparteien vom 6. April herrscht quer durch das politische Spektrum weitgehende Einigkeit darüber, dass es keine linksorientierte Alternative zur amtierenden Regierung geben werde, solange nicht weitreichende Lehren aus den zwei aufeinanderfolgenden katastrophalen Wahlniederlagen gezogen werden. Meinungsunterschiede jedoch gibt es mit Blick auf die Art der zu ziehenden Lehren.
Im Leitartikel des unabhängigen Wochenmagazins Figyelő äußert Autor György Dózsa die Vermutung, dass die Linksparteien bei den Europawahlen am 25. Mai insgesamt weniger Stimmen bekommen könnten als Jobbik. Dessen ungeachtet dürften ihre Hauptgegner diesmal weder die Rechtsextremisten noch die regierenden Koalitionäre vom Fidesz und der KDNP sein: Zunächst und vor allem würden sie sich untereinander bekämpfen und damit die Frage beantworten, welche Kräfte zum Überleben bestimmt seien. Das Europäische Parlament gelte stets – so die Beobachtung Dózsas – als „Friedhof für Parteikader“. Der Leitartikler erinnert in diesem Zusammenhang an die früheren Fidesz-Spitzenpolitiker József Szájer und Tamás Deutsch sowie an den diesjährigen MSZP-Spitzenmann Tibor Szanyi. Dessen Kandidatur schaffe Parteichef Attila Mesterházy einen möglichen scharfen Kritiker vom Hals, vermutet Dózsa.
Laut einer in Népszabadság veröffentlichten Analyse von Sandor Révész stehen bei Wahlkämpfen und politischen Diskursen wichtige Fragen nicht wirklich im Mittelpunkt des Interesses – nicht einmal, wenn es um Sitze im nationalen Parlament gehe. Und noch unwichtiger seien sie im Vorfeld von Europawahlen. Kein Wunder also, wenn die Wahlbeteiligung niedrig bleibe. Wegen dieser niedrigen Wahlbeteiligung – aber auch weil viele zögerliche Wähler der Rechten, die einen Fidesz-Wahlsieg als gegeben betrachten, entweder zu Hause blieben oder sich für Jobbik entschieden – dürfte die rechtsradikale Partei erstmals auf dem zweiten Rang landen und dabei nicht nur mehr Stimmen als die MSZP, sondern auch als alle Linksparteien zusammen erringen.
In der Druckausgabe von Magyar Narancs regt Anna Unger an, dass die Linke ihre eigene Basis von Grund auf neu erschaffen müsse. Dabei sollte sie sich ein Beispiel am Fidesz nehmen, als nämlich die Partei nach ihrer Wahlniederlage 2002 ein weit verzweigtes Netz von Freundeskreisen aufgebaut habe, „eine nahezu getreue Kopie des rechten amerikanischen Vorbilds“. Die Autorin räumt ein, dass Attila Mesterházy die Ordnung innerhalb der MSZP wiederhergestellt habe, was ihm jedoch nur innerhalb der Partei gedankt worden sei. Auch Ferenc Gyurcsány mag wohl bei seinen eigenen Leuten unglaublich populär sein, doch reiche dies für die Wiederherstellung von Demokratie nicht aus, ist Unger überzeugt. Da die Oppositionsparteien zur Übernahme einer Nebenrolle im Parlament verdammt seien und „ein Auszug auf die Straße“ lediglich eine Machtdemonstration ohne all zu großes Personalbeschaffungspotenzial darstelle, müssten neue Akteure ins Spiel gebracht werden – vor allem NGOs, die die Linke weder als Konkurrenten ansehen noch sie zwangsweise einverleiben sollte, empfiehlt Unger.
In Heti Világgazdaság argwöhnt Dániel Mikecz, dass die Linke die Veränderungen nicht bemerkt habe, die sich hinsichtlich der generellen Haltung zur Politik vollzogen hätten. Ihr Spitzenpersonal sei offenbar der irrigen Ansicht, dass sich die Wähler immer passiver verhielten. Die Menschen distanzierten sich von den Parteien, weil sie ihre Meinungen nicht mit deren Hilfe zum Ausdruck bringen könnten. Viele Menschen, vor allem junge Leute, engagierten sich immer weniger für ihre Parteien und drückten ihre Meinungen zu individuellen Fragen immer häufiger in sozialen Netzwerken aus. Mikecz schlägt vor, dass die linken Parteien das Anliegen der „Ermächtigung“ der Menschen aktiv betreiben sollten, denn zahlreiche Wähler frustriere die Tatsache, dass sie nichts beeinflussen könnten. Als ein konkretes Beispiel nennt der Autor das von den Parteiführungen bestimmte Kandidatenranking auf Parteilisten. Dieses sollte nach den persönlichen Wünschen der Wähler verändert werden können, meint Mikecz.
Im Wochenmagazin Magyar Demokrata nimmt Péter Farkas Zárug den sozialistischen Parteichef Attila Mesterházy aufs Korn. Dieser habe die mit viel publizistischer Aufmerksamkeit bedachte Erneuerung der MSZP auf das Vergraulen des früheren Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány und einiger der alten Parteikoryphäen beschränkt. Mesterházy habe geglaubt, wenn er sämtliche Schuld auf die einstige Parteiführung abwälze und seine Vertrauten um sich schare, fiele ihm der Wahlsieg praktisch automatisch zu – und zwar aufgrund der von der Regierung gemachten Fehler und der seitens der europäischen Linken gewährten Unterstützung. Stattdessen, so argumentiert der rechtsorientierte Analyst weiter, geriet er ins Fadenkreuz der neuen Partei von Gyurcsány sowie auch Gordon Bajnais, der überraschenderweise „von Kräften aus Washington eingeflogen worden sei, die die MSZP früher einmal unterstützt hätten“. Zárug vermutet abschließend, dass die MSZP einen „Ereignishorizont“ erreicht habe, also den Bereich eines Schwarzen Loches, von dem aufgrund der Kräfte kein Entrinnen mehr möglich sei.
Nach Ansicht von Vasárnapi Hírek ist die MSZP bereits so weit beschädigt, dass sie auf Hilfe regierungsfreundlicher Kräfte angewiesen sei. In einem nicht gezeichneten Artikel heißt es in der linken Sonntagszeitung, die Sozialistische Partei habe Schulden in Höhe von zwei Milliarden Forint angehäuft und ihr Konto sei „von der Gläubigerbank eingefroren worden“. „Wem stehen heutzutage zwei Milliarden für politische Zwecke zur Verfügung?“, fragt VH in deutlicher Anspielung auf regierungsfreundliche Großindustrielle. VH berichtet, dass verschiedene sozialistische Politiker Gerüchten Glauben schenkten, wonach sich Parteichef Attila Mesterházy mehrmals mit dem persönlichen Berater des Ministerpräsidenten, Árpád Habony, getroffen habe, und spekuliert, dass die beiden möglicherweise die Schaltung von staatlichen Inseraten oder Werbespots „Fidesz-freundlicher“ Unternehmen in den Sozialisten nahestehenden Medien erörtert hätten. Jedenfalls seien ganz unerwartet kurz vor den Wahlen Inserate von Közgép in Népszava und Népszabadság „mit einem geschätzten Wert von 300 Millionen Forint erschienen“, berichtet VH. (Közgép gilt weithin als Rückgrat eines Fidesz-freundlichen Geschäftsimperiums – Anm. d. Red.) Das Sonntagsblatt, dessen verantwortlicher Redakteur Zoltán J. Gál einst ein enger Berater von Ferenc Gyurcsány in dessen Zeit als Regierungschef gewesen war, gibt weit verbreitete Gerüchte über bekannte Politiker der sozialistischen Partei wieder, die angeblich linken Medien von Berichten über finanzielle Machenschaften von mindestens zwei der Regierung nahestehenden Politikern abraten sollen.
In der Druckausgabe von Magyar Nemzet wirft Péter Techet den Ungarn vor, sie hätten mit ihrer Entscheidung für ein Wahlsystem mit Mehrheitsbonus einen Fehler begangen. Immerhin, so argumentiert der Verfasser, sei die ungarische Geschichte durch Ein-Parteien-Herrschaftssysteme anstatt einer Vielzahl von koalitionsunfähigen Splittergrüppchen gekennzeichnet gewesen. Ein Verhältniswahlrecht hätte die Kontrahenten zu Kompromissen und gegenseitiger Toleranz gezwungen. Möglicherweise hätte das dazu beigetragen, die tiefen Risse der Gegenwart zu verhindern. Dennoch seien das „Mehrheitswahlrecht“ und die von ihm hervorgebrachte Regierung absolut legitim, betont der Autor. Andererseits glaubt Techet, dass die jüngsten Wahlen eine „antiliberale Koalition“ produziert haben. Die besiegte Linksallianz ist für den Autor der letzte Comeback-Versuch der liberalen Intelligenz sowie deren letzter Anlauf gewesen, der Sozialistischen Partei ihren Willen aufzuzwingen. Dem „liberalen Konsens“, also „der liberalen Interpretation des Rechtsstaats, der kapitalistischen Marktwirtschaft und der bedingungslosen euro-atlantischen Integration“, sei bereits im Jahre 2010 die Puste ausgegangen. „Am 6. April ist er vollkommen verschwunden“, gibt sich Techet überzeugt. Er glaubt, die Sozialistische Partei werde diese Ideale nie wieder vertreten, denn sie sagten nichts über die materiellen Bedürfnisse des größten Teils der Bevölkerung aus – im Gegensatz zur von der Regierung betriebenen Politik, „die sich mit dem peripheren Status des Landes abgefunden hat und ihren einzigen Wettbewerbsvorteil nutzen möchte – niedrige Löhne und mangelhafte Rechte der Erwerbstätigen“. Dieser Kurs biete der Gesellschaft eine gewisse Stabilität, die laut Techet den Sieg der regierenden Kräfte 2018 nahezu sicher garantieren werde. Die Unzufriedenen würden sich eher Jobbik als den Sozialisten zuwenden und der rechtsradikalen Partei noch mehr Parlamentssitze bescheren, ohne jedoch das Primat der Mitte-Rechts-Koalition zu gefährden. Der Fidesz könne gut und gerne bis 2022 planen, resümiert Techet.
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