Spontane Oppositionsbewegungen in der Hauptrolle
1. Dec. 2014Ein konservativer Beobachter bezeichnet die führenden Köpfe der neuen, spontan entstandenen und regierungskritischen Bewegungen als Tagträumer, fordert aber gleichzeitig den Fidesz auf, aus dem eigenen Traum seiner Selbstzufriedenheit aufzuwachen. Ein linksorientierter Analyst wiederum schließt nicht aus, dass sich in Ungarn eine neue politische Basisbewegung etablieren könnte.
In seinem regelmäßigen Leitartikel für Heti Válasz analysiert Gábor Borókai das, was er die beiden aus dem Ergebnis der Nachwahl vom vergangenen Sonntag im IV. Budapester Stadtbezirk zu ziehenden Lehren bezeichnet. Dort hatte der sozialistische Kandidat bei einer niedrigen Wahlbeteiligung von 33 Prozent einen haushohen Wahlsieg eingefahren (vgl. BudaPost vom 26. November). Einerseits, so Borókai, widerlege das Ergebnis ganz deutlich Behauptungen der Opposition, wonach der Fidesz das Wahlsystem derartig manipuliert habe, dass ein Sieg von Oppositionsparteien nicht mehr möglich sei. Andererseits hätten die Sozialisten das Parlamentsmandat errungen, weil sich die meisten Fidesz-Wähler gegen einen Gang an die Urnen entschieden hätten.
Sowohl hinter deren Verweigerung als auch hinter den neuen Protestbewegungen samt ihren während des Herbstes organisierten Großdemonstrationen erkennt der Autor einen gemeinsamen Nenner: Der Regimewechsel habe im Laufe der vergangenen 25 Jahren das einst abgegebene zentrale Versprechen nicht eingelöst, nämlich Ungarn näher an die westlichen Wohlfahrtsstaaten heranzuführen. Die Demonstranten glauben, dies sei die Schuld der regierenden Eliten der zurückliegenden 25 Jahre. Doch sie irren sich, schreibt Borókai.
Tatsächlich sei es so, dass es mit Ausnahme von Polen und der Slowakei keines der ehemaligen Mitgliedsländer im sowjetisch beherrschten Block Mittel- und Osteuropas geschafft habe, den sie vom Westen trennenden Abstand zu verringern.
Die von den führenden Köpfen der spontanen Oppositionsbewegung ins Auge gefasste Lösung sehe eine Konsensdemokratie vor, die sich anstatt an Parteipolitik vielmehr an den Regeln des gesunden Menschenverstandes orientiere. Borókai hält diese Vorstellung für illusorisch. In unserer Region, fährt der Autor fort, hätten es die Nationen nach wie vor mit gewaltigen globalen Kräften zu tun und könnten nur unter einer starken Regierung erfolgreich sein.
Diese Kräfte bevorzugten schwache Regierungen und täten ihr Bestes, um die starken zu schwächen – entweder mit Hilfe der Parlamente oder durch „das Schüren von Illusionen und Verwirrung. Das geschieht gerade in Ungarn“, fügt Borókai hinzu und fährt fort: Es wäre ein Fehler zu glauben, dass die Niederlage der Regierung bei der jüngsten Nachwahl lediglich auf eine Art Verschwörung zurückzuführen sei. „Dieses andauernde Improvisieren der vergangenen Monate sowie der verheerende Umgang mit den US-Einreiseverboten (für ungarische Politiker und Geschäftsleute, vgl. BudaPost vom 22. November) hätten bei diesem Misserfolg eine wesentliche Rolle gespielt.“ 10.000 Fidesz-Wähler seien am vergangenen Sonntag zu Hause geblieben, notiert Borókai und rät abschließend, „dass man die Ursachen dafür verstehen sollte“.
Im Wochenmagazin Figyelő schreibt Gábor Filippov, es sei eine beredte Tatsache, dass der sozialistische Sieg eine Leistung derjenigen regierungsfreundlichen Wähler gewesen sei, die ihre Stimme nicht abgegeben hätten. Die MSZP habe keine neuen Wähler mobilisieren können. Kein Wunder also, wenn die mit der Regierung unzufriedenen Bürgerinnen und Bürger ihre Hoffnungen zunehmend auf sympathische dilettantische Studenten, anstatt auf professionelle Linksparteien setzten. Der Autor wendet sich gegen Bedenken linksliberaler Analysten (vgl. BudaPost vom 19. November), die sie populistisch nennen und ihnen vorwerfen, sie verfügten weder über eine klare Ideologie noch über eine Parteistruktur. Filippov verweist auf das Beispiel der neuen spanischen Podemos-Partei, die sich von einer unorganisierten Bewegung der „Empörung“ zur aktuell beliebtesten politischen Kraft entwickelt habe. Indem sie sich gegen Korruption wendeten, durch Eliten-kritische Gefühle sowie mit Hilfe einer Neudefinition von Begriffen wie soziale Gerechtigkeit und menschliche Würde könnten sich Bewegungen als erfolgreich erweisen, die geschickt die neuen Kommunikationswege nutzten und sich der freundlichen Aufmerksamkeit der traditionellen Medien erfreuten, glaubt der Autor.
Junge, über ein Viertel Jahrhundert aufgewachsene Leute verfügten im Vergleich zu ihren Eltern und Großeltern über eine völlig andersartige Wahrnehmung der Welt und sprächen in ihrer Ausdrucksweise auch eine gänzlich unterschiedliche Sprache als sie. Das schließe auch den Fidesz selbst ein. Die Regierungspartei, so Filippov, verfüge noch über erhebliche Reserven, werde aber langfristig von der selben Art Alterungsprozess und nachfolgender Entkräftung bedroht, unter der gerade auch die MSZP leide. Das Durchschnittsalter ihrer Wähler steige langsam aber stetig, was bedeute, dass sie unfähig zur Reproduktion ihrer Wählerschaft sei, denn die Partei spräche immer weniger die Sprache der neuen Generation. Die neuen Bewegungen, warnt der linksorientierte Analyst, würden nicht notwendigerweise eine bessere Alternative zu den bestehenden Parteien anbieten, wie das Beispiel einiger der linken und rechten Protestparteien in Westeuropa beweise.
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