Lehren aus dem Anschlag auf Charlie Hebdo
12. Jan. 2015Kommentatoren aller politischen Lager unternehmen den Versuch, die langfristigen Auswirkungen des Massakers auf die Redaktion von Charlie Hebdo zu bewerten. Vor allem geht es um die Frage, ob das Konzept der freien Meinungsäußerung eingeschränkt werden sollte, um religiöse Gefühle zu schützen und fundamentalistische Gewalt zu verhindern.
Népszabadság warnt davor, „die Muslime“ für fundamentalistische Gewalttaten verantwortlich zu machen. Im Leitartikel auf der Titelseite der führenden linken Tageszeitung wird die Befürchtung geäußert, dass die Trauer demnächst in Wut umschlagen könnte. In diesem Falle könnte ein „Kampf der Kulturen“ im Sinne Huntingtons Realität werden. Die Leitartikler hoffen, dass die Europäer nicht dem Vorbild der USA folgen werden, die sich nach dem Terror des Jahres 2001 mittels Krieg gerächt hatten.
In der gleichen Tageszeitung bezeichnet es András Dési als erhebend, dass Menschen weltweit ihre Solidarität mit den Opfern zum Ausdruck gebracht haben. Durch die Demonstrationen der vergangenen Tage hätten die Europäer ihr Vertrauen in die Grundprinzipien der europäischen liberalen Demokratie zum Ausdruck gebracht, darunter vor allem die Presse- sowie die Meinungsfreiheit, konstatiert der linksorientierte Kolumnist.
Nach dem Terrorüberfall werden die gegen Einwanderer gerichteten Ressentiments zunehmen, sagt Zsuzsanna Körmendy in Magyar Nemzet voraus. Die wichtigste Lehre aus dem Terroranschlag laute, dass Immigranten nicht so ohne weiteres die Kultur ihrer neuen Heimatländer übernähmen. Liberale würden die Bedeutung der nationalen Zugehörigkeit gerne herunterspielen, schreibt die konservative Kolumnistin und betont in diesem Zusammenhang, dass Einwanderer ihre kulturellen Empfindlichkeiten sowie ihre Bindungen an die Kultur ihrer jeweiligen Heimatländer bewahrten. Diese Identitäten und Empfindungen könnten in der Folge zum Ausgangspunkt gewalttätiger Auseinandersetzungen werden. Mit Blick auf die Opfer vermutet Körmendy, dass einige von ihnen in der Studentenbewegung des Jahres 1968 aktiv gewesen sein und es als wichtig empfunden haben müssen, ihre höchst provozierenden Karikaturen ungeachtet der ihnen zugegangenen Morddrohungen im Geiste der 68er zu veröffentlichen.
Gábor Vajda von 444 fragt sich, ob es in Ungarn wohl möglich sein würde, ein satirisches Wochenmagazin nach dem Vorbild von Charlie Hebdo herauszugeben. Seine Vermutung: Ein solches Magazin würde seine erste Nummer nicht überleben. „Ungarn ist nicht Frankreich, es ist kein auf den religionskritischen Ideen eines Voltaire gründender Staat“, notiert Vajda. Uneingeschränkte Pressefreiheit sei für eine Demokratie absolut notwendig, doch würden in Ungarn verbale Ausfälle nicht geduldet. Vajda erinnert daran, dass die Entweihung nationale Symbole, darunter die Heilige Krone, gegen das Gesetz verstoße. Dies ist in den Augen des Autors ein Hinweis auf die mangelnde Freiheit.
Die Nichtachtung religiöser Empfindlichkeiten sei einer der Hauptpfeiler der europäischen Zivilisation und Demokratie, behauptet László Szily auf Cink. Der liberale Autor fordert die Europäer dazu auf, unerschrocken den Schutz der Meinungsfreiheit zu verteidigen. Gleichzeitig fordert er von den Muslimen die Anerkennung der Tatsache ein, dass in Europa jedwede Ansichten, darunter auch religiöse, verbal angegriffen werden könnten, und zwar sogar in einer unflätigen Art und Weise.
Laut Szily ruhen „der säkulare Staat, der Kapitalismus und die Demokratie“ auf der Freiheit, keinerlei Empfindlichkeiten zu respektieren. „Dies ist die einzige Garantie gegen Einschränkungen unserer Freiheit durch irgendeine Religion oder Ideologie“, fährt der Autor fort, macht aber gleichzeitig auch darauf aufmerksam, dass man der Meinungsfreiheit nicht immer notwendigerweise durch Beleidigungen Ausdruck verleihen müsse. Nebenbei verweist Szily darauf, dass es in Ungarn, obwohl Hass hierzulande weit verbreitet sei, niemand angesichts gotteslästerlicher Meinungsäußerung auf das Leben eines anderen absehen würde.
Wenn die Redefreiheit ein absolutes Recht darstelle, warum kritisierten Liberale einen Humoristen derart heftig, der einen abwegigen Witz über junge Frauen gerissen hatte, die zur Vergewaltigung auffordern?, fragt sich Csaba Lukács in Magyar Nemzet. Der regierungsnahe Kolumnist bezeichnet Massenmord als eine schreckliche und barbarische Tat, gibt aber im gleichen Atemzug zu bedenken, dass es das Recht auf die Beleidigung der religiösen Gefühle anderer möglicherweise nicht wert sei, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen. Die Wiederveröffentlichung der Mohammed-Karikaturen von Charlie Hebdo durch internationale Medien in einer polemisierenden Verteidigung der Redefreiheit könnte die Situation zusätzlich verschlimmern, resümiert Lukács abschließend.
Auf Index fordert Péter Bohus, dass die Liberalen hinsichtlich ihres Rechts auf Kritik an religiösen Vorstellungen keinerlei Kompromisse eingehen sollten, selbst wenn die Kritik extrem anstößig ausfiele. Gleichzeitig sollte es aber nicht hingenommen werden, wenn ein Humorist Scherze mit tatsächlichen Vergewaltigungsopfern treibt.
Tags: Charlie Hebdo, Islamismus, Meinungsfreiheit, Terrorismus