Merkel und Orbán zieren internationale Titelseiten
14. Dec. 2015Die ungarischen Kommentatoren greifen die sich vertiefende Kluft zwischen liberalen Eliten und deren Gegenspielern auf. Anlass dafür sind Aufmacher zweier einflussreicher internationaler Presseorgane: Zum einen wählte das US-amerikanische Magazin Time Kanzlerin Angela Merkel zur Person des Jahres 2015. Zum anderen machte die britische Wochenzeitung The Economist mit einer Titelbildkollage dreier Politiker auf: Zu sehen sind Ministerpräsident Viktor Orbán, US-Milliardär Donald Trump sowie Marine Le Pen, Chefin des Front National.
Im Leitartikel auf der Titelseite der Wochenendausgabe von Népszabadság feiern die Autoren die Entscheidung des Nachrichtenmagazins Time, Angela Merkel zur Persönlichkeit des Jahres zu küren. Zur Begründung heißt es, Merkel wolle Brücken bauen und im Einklang mit den Prinzipien der Menschlichkeit agieren. Die linksorientierte Tageszeitung hält den Mut und die Moralauffassung Merkels für außerordentlich bedeutsam, da gegen Einwanderer gerichtete Stimmungen sowohl in Europa als auch in den USA zunehmen würden.
In Népszava stellt Róbert Friss die Darstellung Merkels auf der Time-Titelseite und den Aufmacher des Economist mit den Köpfen von Trump, Le Pen und Orbán einander gegenüber. Der linksorientierte Journalist interpretiert beide Titelseiten als eine Versinnbildlichung der sich vertiefenden Kluft zwischen der Bereitschaft Merkels, Flüchtlingen zu helfen, und den Bemühungen „der populistischen Rechten“, zwecks Errichtung illiberlaer Staaten Angst zu schüren. Während Merkel und einige andere Politiker die europäische Solidarität stärken wollten, sei die populistische Rechte bestrebt, die nationale Herrschaft zu restaurieren. Das, so befürchtet Friss, könnte in der Auflösung der EU münden.
Gábor Stier von der Tageszeitung Magyar Nemzet vertritt die Auffassung, dass Merkels bedingungslose, liberale Unterstützung offener Grenzen genau so unpraktikabel und wenig wünschenswert sei wie die Vorstellung abgeriegelter Grenzen. Der konservative Kolumnist sieht die Zukunft Europas von der Fähigkeit Merkels abhängen, die Migrantenkrise in den Griff zu bekommen. Doch wolle sie erfolgreich sein, müsse sie mit Blick auf die Unterstützung von Migrationsbewegungen vorsichtiger agieren, urteilt Stier und fährt fort: Da die deutsche Kanzlerin offenbar gegenüber ihrer früheren bedingungslosen Unterstützung von Migranten zurückgerudert sei, habe sie noch immer die Chance, die Bundestagswahlen 2017 zu gewinnen und populistischen Herausforderern zu begegnen, die nicht nur Deutschland, sondern auch das gesamte europäische Integrationsprojekt bedrohen würden.
Es seien liberale Eliten und weniger populistische Rechte, die Ängste schüren würden, behauptet Róbert Baranya in Magyar Hírlap. Der regierungsfreundliche Kommentator glaubt, dass die Titelkollage des Economist Ausdruck für die zunehmende Panik unter liberalen und die Globalisierung befürwortenden Eliten sei. Um die offenen Grenzen sowie die unkontrollierten globalen Märkte zu schützen, wollten die liberalen Eliten ihre Gegner moralisch bezwingen, indem sie sie als gefährliche Populisten – oder unverhohlene Antidemokraten, Extremisten oder Nazis darstellten. Da aber das normale Volk erkenne, dass der weltumspannende Kapitalismus Ausbeutung, Flüchtlingswellen und zunehmende Terrorismusgefahren verursache, würden die Behauptungen liberaler Eliten für die Menschen immer unwichtiger, resümiert Baranya.
In seinem Blog empfiehlt der konservative Philosoph Ervin Nagy den Liberalen, sie sollten nicht allzu überschwänglich und triumphierend auf die Times-Entscheidung reagieren, Angela Merkel zur Persönlichkeit des Jahres zu küren. Nagy erinnert daran, dass das gleiche Nachrichtenmagazin 1938 Adolf Hitler und Stalin zweimal (1939 und 1942) in diesem Sinne gekennzeichnet habe. Die Herausstellung der deutschen Kanzlerin als Person des Jahres bedeute lediglich die Anerkennung des von einer Person ausgehenden Einflusses – unabhängig davon, ob im guten oder schlechten Sinne, notiert Nagy.
Tags: Angela Merkel, Migration, Populismus, Viktor Orbán