Parteien bereits im Wahlkampfmodus
15. May. 2017Die Kommentatoren und Leitartikler der ungarischen Wochenzeitschriften versuchen sich einen Reim auf die verbissen geführte politische Auseinandersetzung ein Jahr vor den kommenden Parlamentswahlen zu machen. Dabei beobachten sie Grabenkämpfe entlang der üblichen Rechts-Links-Frontlinie – aber auch innerhalb des linksoppositionellen Lagers.
Tamás Lánczi beschreibt die typischen Losungen der Opposition als ein Sammelsurium selbstzerstörerischer Behauptungen. Der Chefredakteur des Wochenmagazins Figyelő erinnert an die gescheiterte Fidesz-Taktik im Vorfeld der Wahlen 2006, als die rechtsorientierte Partei ihren Wahlkampf auf die unwahre Aussage gegründet habe, dass „es uns jetzt schlechter geht als vor vier Jahren“. In Wahrheit habe der Lebensstandard seinerzeit über dem Niveau von 2002 gelegen – und Fidesz die damalige Wahl verloren. Aktuell verfüge Ungarn mit 4,3 Prozent über eine der europaweit niedrigsten Arbeitslosenquoten, der Durchschnittsverdienst habe sich in den vergangenen zwei Jahren um 8,2 Prozent erhöht, während das Haushaltsdefizit unter der von der EU geforderten Obergrenze liege und die Verschuldung des Staates Jahr für Jahr sinke.
Aus diesem Grunde glaubt Lánci, dass die jüngste Protestwelle der Opposition keinerlei politische Auswirkungen gezeitigt habe und die Regierenden in Meinungsumfragen Werte um die 47,48 Prozent erreichten. Der regierungsnahe Journalist glaubt, dass sich die Opposition mit ihrer Behauptung, die Regierung sorge in Ungarn für eine weit verbreitete Misere, einen selbstzerstörerischen Dienst erweise. Gewöhnlich verlören Politiker ihre Besonnenheit, wenn sie sich in einer führenden Position befänden. In Ungarn allerdings sei es die Opposition, die ihren Realitätssinn verloren habe, gibt Lánci zu bedenken.
In Heti Válasz bedauert Gergely Prőhle, unlängst noch ein hochrangiger Beamter im Außenministerium, den in der Kampagne angeschlagenen Ton. Er erinnert seine Leser an eines der drastischsten Plakate des Wahlkampfes 1990. (Es zeigte von hinten den Kopf eines russischen Offiziers und trug die Unterschrift: Towarischtschi, konjets [Genossen, es ist vorbei] – Anm. d. Red.) Das sei damals als grenzwertig angesehen worden, heutzutage würde es kaum Beachtung finden, glaubt Prőhle, der mittlerweile das Budapester Petőfi Literaturmuseum leitet. Zwei Plakate hält er aktuell für besonders grobschlächtig. (Eines porträtiert führende Persönlichkeiten der Regierung, darunter den Ministerpräsidenten. Im zugehörigen Text wird der betrachtenden Öffentlichkeit bescheinigt: „Während ihr schuftet, stehlen diese Leute.“ Die Regierenden üben mit Plakaten Vergeltung, die die Parteichefs der MSZP und von Jobbik als Marionettenfiguren an den Fäden von George Soros beziehungsweise Lajos Simicska darstellen – Anm. d. Red.) „Eine derartige zivilisatorische Zurückgebliebenheit sollte nicht veröffentlicht werden“, empfiehlt Prőhle. Sollte dies auch künftig der Stil der politischen Kommunikation sein, wäre es kein Wunder, wenn sich vernünftige Menschen völlig von der Politik abwenden würden.
In der gleichen Wochenzeitschrift beklagt auch Chefredakteur Gábor Borókai, dass Worte heutzutage darauf angelegt seien, die andere Seite zu zerstören, anstatt sie zu überzeugen. Die Ursache hierfür sieht der Autor in der Tatsache, dass die regierende Mehrheit gegenwärtig ein völlig neues System installiere. Die Wende habe ihr großes Versprechen von Überfluss und Glück nicht einlösen können. Nach der Finanzkrise von 2008 habe die Öffentlichkeit eine Art neues System verlangt. Die nach den Wahlen 2010 gebildete neue Regierung habe damit begonnen, den von den alten Eliten aus der kommunistischen Periode ererbten Wohlstand umzuverteilen. Der sich daraus entwickelnde erbitterte Kampf habe dazu geführt, dass sich Politiker gegenseitig als Feinde betrachteten. Doch könnte Hass „alles zerstören“, befürchtet Borókai. Aber bevor dies geschehe, „sollten wir mit dem wütenden Zähnefletschen aufhören“.
Magyar Narancs verurteilt scharf den von Ferenc Gyurcsány erhobenen Vorwurf, Ministerpräsident Viktor Orbán werde aufgrund nicht näher spezifizierter, von russischen Geheimdiensten aufgedeckter Verfehlungen vom Kreml erpresst. In ihrem Wochenleitartikel fragen die Herausgeber des Magazins, weshalb wohl die internationale Presse diese riesige Neuigkeit noch nicht aufgegriffen habe und weshalb die Ungarn nicht massenhaft für den sofortigen Rücktritt des Ministerpräsidenten demonstriert hätten. Die Antwort: Niemand nehme Gyurcsány mehr ernst. Er habe dem Regierungschef ein Ultimatum gestellt, erinnern die Leitartikler: Entweder solle Orbán ihn verklagen, oder er gelte als des Hochverrats schuldig. Aber warum habe Gyurcsány Orbán nicht persönlich verklagt, wenn er die Angelegenheit vor den Kadi bringen wolle? Als öffentliche Figur wäre es seine Pflicht gewesen, die Behörden zu alarmieren. Magyar Narancs ist davon überzeugt, dass die russische Seite keineswegs vor Einmischungen in die Politik anderer Länder zurückschrecke. Allerdings untermauerten die nicht belegten Behauptungen Gyurcsánys den Verdacht, dass die Angst vor einer russischen Einmischung nichts weiter als Verschwörungstheorien seien.
In 168 Óra fragt Zoltán Lakner sich und seine Leser, ob der sozialistische Kandidat für das Amt des Regierungschefs Gyurcsány wohl aus dem politischen Leben werde vertreiben können, um dafür zu sorgen, dass beide – Orbán und Gyurcsány – gemeinsam fallen. László Botka habe den vom Vorsitzenden der Demokratischen Koalition gegen Orbán gerichteten Vorwurf als unverantwortlich bezeichnet und geäußert, er wäre ein weiterer Grund für Gyurcsánys Rücktritt. Für Lakner ist es offensichtlich, dass der sozialistische Kandidat darauf erpicht sei, eher am neuen Profil seiner Partei als an einem Wahlbündnis zu feilen. Er wolle mit Hilfe einer profiliert linken Politik und einer Abgrenzung gegenüber dem unbeliebten einstigen Ministerpräsidenten verlorengegangene Wähler zurückholen. Die Fehde zwischen beiden werde früher oder später mit einer Niederlage von einem – oder beiden zusammen – enden, ist Lakner überzeugt.