Niemand ist EU-freundlicher als die Ungarn
3. Jul. 2017Nachdem sich in zwei zeitgleich erhobenen internationalen Umfragen herausgestellt hat, dass Ungarn diejenige Nation mit der positivsten Grundhaltung gegenüber der EU ist, debattieren Kommentatoren die Frage, welche Rolle die Budapester Regierung bei der Auseinandersetzung mit Brüssel und bei der Herausbildung der öffentlichen Meinung im Lande bislang gespielt hat. Dabei befindet sich der ungarische EU-Kommissar – ungeachtet seiner Loyalität mit Blick auf den Fidesz – in Fragen Migration durchaus nicht auf Regierungslinie.
Péter Krekó, ein führender Analyst der Denkfabrik Political Capital, kommentiert in Heti Világgazdaság die sich aus der Umfrage von Chatham House – Kantar Public ergebenden Befunde. (Demnach sind die Ungarn unter dem Dutzend untersuchter Mitgliedsstaaten dasjenige Volk, das der Europäischen Union mit Abstand am positivsten gegenübersteht. Eine Rekordzahl von 74 Prozent der ungarischen Befragten erklärte, sie wären stolz darauf, Europäer zu sein. 54 Prozent drückten ihr Vertrauen gegenüber der EU aus – Anm. d. Red.) Merkwürdig findet Krekó indes, dass sie dessen ungeachtet mit der von der Union betriebenen Migrationspolitik nicht übereinstimmen. Konkret glaubten die Ungarn, dass der Umgang mit dem Phänomen der Massenmigration der vergangenen Jahre eine von drei großen Fehlleistungen der EU-Spitze gewesen sei. Krekó führt diese Haltung auf die massiven Kampagnen der Regierung zu diesem Thema zurück. (Allerdings hatte die Umfrage auch aufgezeigt, dass die Ungarn ihrer eigenen Regierung keineswegs blind vertrauen würden. So glauben 49 Prozent der Befragten, dass ihr Land „nicht auf demokratische Art und Weise funktioniert“. Lediglich 20 Prozent sehen die EU in diesem Licht – Anm. d. Red.) Der liberale Kommentator vermutet, dass Ministerpräsident Viktor Orbán die Union so oft kritisiere, um das beschriebene Vertrauen zu erschüttern und in der Folge nicht selbst als im Vergleich zur Europäischen Union „weniger attraktiv“ beurteilt zu werden. Krekó bezichtigt den Ministerpräsidenten darüber hinaus, er versuche „die Union mittels einer EU-skeptischen Öffentlichkeit und der realistischen Aussicht auf einen Huxit im Hintergrund zu erpressen“. In seinem Schlusswort widerspricht sich der Autor aber in gewisser Weise selbst, wenn er schreibt, dass Orbán sein mehrheitlich der Union gewogenes Volk ersetzen – oder zumindest umstimmen – wolle. (Der Chatham House-Bericht konzentrierte sich auf die unterschiedlichen Einstellungen gegenüber der EU bei Eliten einerseits sowie der breiten Öffentlichkeit andererseits und fand heraus, dass die Eliten ein weitaus positiveres Bild von der Union haben als die Masse der Bevölkerung. An der Auswertung der Daten war auch Political Capital beteiligt – Anm. d. Red.)
In seinem wöchentlichen Leitartikel für Figyelő analysiert Tamás Lánczi die Ergebnisse einer in allen 28 Mitgliedsstaaten erhobenen Umfrage der ungarischen Denkfabrik Századvég, laut der die Ungarn zusammen mit den Polen mit Abstand diejenigen seien, deren Neigung zum Verlassen der EU am wenigsten stark ausgeprägt sei. Der Dissens zur etablierten Flüchtlingspolitik der Union erscheine laut dieser Umfrage als ein gemeinsamer Charakterzug von Osteuropäern. Doch im Gegensatz zu Péter Krekós Annahme würden die Zahlen von Századvég aufzeigen, dass Massenmigration in ganz Europa als ernsthaftes und ungelöstes Problem wahrgenommen werde. Westeuropäer hingegen würden, so Lánczi, dazu tendieren, das Problem mit der Umsiedlung von Migranten innerhalb der Europäischen Union beseitigen zu wollen, während Osteuropäer befestigte Außengrenzen befürworteten. (Nach Angaben von Századvég ist die Zahl derjenigen Länder, in denen eine Mehrheit der Bevölkerung hinter der ungarischen Position steht, in den vergangenen Jahren gestiegen. Zu ihnen gehören – neben den ursprünglichen Unterstützern Polen und Slowakei – nunmehr auch Bulgarien, Rumänien, Slowenien, die Tschechische Republik sowie die baltischen Staaten. Verpflichtende Verteilungsquoten werden demnach aber auch von Großbritannien, Finnland, Kroatien und Dänemark abgelehnt. Eine weitere von den Századvég-Forschern aufgedeckte Neuerung besteht darin, dass im Moment eine Mehrheit der Europäer die aus Afrika und Asien eintreffenden Menschen eher als Wirtschaftsmigranten denn als Flüchtlinge betrachten würde – Anm. d. Red.) Lánczi schließt mit der Feststellung, dass der Streit noch nicht beigelegt worden sei und der deutsche Ansatz nach wie vor von einer Mehrheit der Europäer unterstützt werde, wenngleich die ungarische Herangehensweise von einer wachsenden Zahl der Menschen auf dem Kontinent geteilt werde.
Der ungarische EU-Kommissar Tibor Navracsics vertritt in Heti Velász mit Blick auf die Migranten-Quote einen anderen Standpunkt als die Regierung seines Heimatlandes. Schweden und Deutsche würden zurecht von anderen Mitgliedsstaaten eine Teilung ihrer Lasten erwarten. Seiner Meinung nach irrt die ungarische Regierung mit ihrer Annahme, dass diese westlichen Länder den Migrationsfluss begünstigt hätten, indem sie Neuankömmlinge enthusiastisch willkommen geheißen und sich gegen Versuche gewehrt hätten, Europas Grenzen für illegale Migranten zu schließen. „Niemand wollte diese Situation, niemand hat sie herbeigeführt“, so Navracsics. Seine eigene Position innerhalb der EU-Kommission sei wegen der massiven Divergenzen zwischen der Kommission und der ungarischen Regierung extrem heikel geworden. „Ich kann nichts von mir geben, was Budapest und Brüssel gleichermaßen genehm wäre“, beklagt der frühere ungarische Justizminister. Am Ende des Interviews bekräftigt Navracsics, dass er nach wie vor Fidesz-Mitglied sei und zurück nach Ungarn kommen würde, um eine Rolle in der ungarischen Politik zu spielen, „falls mir eine Chance gegeben würde, in einem bürgerlichen Ungarn zu arbeiten“.
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