Linksliberale Kommentatoren gegen Wahlallianz von Linken und Jobbik
27. Nov. 2017Nachdem eine ganze Woche kaum über Meldungen diskutiert wurde, wonach liberale Intellektuelle, darunter auch die Philosophin Ágnes Heller, ein Wahlbündnis aus Linksparteien und Jobbik befürworten würden, werden diese verblüffenden Gedankenspiele nunmehr von linksliberalen Kommentatoren als unmoralisch und undurchführbar abgewiesen.
László Seres nennt eine riesige Flut von in sozialen Medien geäußerten zustimmenden Ansichten über einen möglichen Wahlpakt zwischen der „demokratischen Opposition“ und Jobbik „zusehends hysterisch“. In der Wochenzeitschrift HVG kritisiert er gleichzeitig all jene, die auf der Charakterisierung Jobbiks als Neonazi-Partei bestehen. In einem Land frei von Stammesrivalitäten und Kulturkriegen wäre es nicht ungewöhnlich, wenn gemäßigte Wähler ihre Stimmen für Rechts- oder Linksradikale abgeben würden, um im Gegenzug eine „undemokratische Katastrophe“ zu verhindern. Mathematisch gesprochen scheine die Opposition kaum in der Lage, den nächsten Urnengang zu gewinnen, falls sie nicht zumindest in einigen Wahlkreisen mit einer gemeinsamen Liste antreten sollte. Allerdings würde schon eine eher pragmatische Form des Zusammenwirkens voraussetzen, dass sich Jobbik von ihrer radikalen Vergangenheit lossage, gibt Seres zu bedenken. Zudem pflichtet der Kommentator Ágnes Heller ausdrücklich nicht bei, die sich basierend auf ihren eigenen amerikanischen Erfahrungen dafür ausgesprochen hatte, dass man in der Politik die Gegenwart eines Partners begutachten müsse, nicht jedoch dessen Vergangenheit. Seres bezweifelt, dass eine unvermittelte politische Kehrtwende ohne Erklärungen und Selbstkritik in den Vereinigten Staaten als aufrichtig durchgehen würde.
Im Leitartikel von Magyar Narancs wird ein beinahe apokalyptisches Bild über die politische Zukunft Ungarns dort gemalt, wo die Autoren den Zusammenbruch der Sozialistischen Partei verorten. Den Leitartiklern wäre es egal, wenn die – formal betrachtet – dominierende Kraft der Linken verschwinden würde. Ihr Problem besteht vielmehr darin, dass der rapide Niedergang der MSZP nicht mit dem Aufstieg anderer linksliberaler Gebilde einhergehe. Im Gegenteil habe dieser Prozess ein Auseinanderfallen des gesamten oppositionellen Lagers bewirkt. Das vom Absturz der MSZP ausgelöste Gefühl der Hoffnungslosigkeit habe sich auf die Linke in ihrer Gesamtheit negativ ausgewirkt, meinen die Autoren. Jobbik scheine die einzige Oppositionspartei zu sein, die sicher diesseits der Fünf-Prozent-Hürde stehe. Und so vermuten die Leitartikler der Wochenzeitschrift, dass der Fidesz mit Ausnahme des XIII. Budapester Stadtbezirks nicht nur sämtliche Wahlkreise gewinnen werde, sondern lediglich noch eine einzige Oppositionskraft dem Parlament erhalten bleiben könnte: Jobbik. In diesem Fall könnte das Land von einer politischen Kraft regiert werden, die nur noch von etwa jedem vierten potenziellen Wähler unterstützt würde. Gleichzeitig blieben Millionen von Wählern ohne parlamentarische Vertretung außen vor. Dies führt Magyar Narancs zu der Prognose, dass sich die regierende Minderheit zum Zwecke des Machterhalts autoritärer Mittel bedienen werde.
168 Óra widmet dem Thema zwei Kommentare. So geißelt András Pungor die Unfähigkeit der Linken, den Ursachen für ihren Vertrauensverlust auf den Grund zu gehen. Er stimmt den Kritikern der Idee eines Bündnisses aus Linken und Jobbik zu. Jedoch geht es ihm vor allem darum, dass einem solchen Pakt in jedem Fall eine Selbstreflexion und ein Großreinemachen innerhalb der Linken vorausgehen sollte. Pungor fordert „klare Verhältnisse“ im Lager der „demokratischen Opposition“ sowie den Ausschluss von „Gaunern und Kollaborateuren“. Gleichzeitig sollten Linke, Liberale und gemäßigte Konservative ihre jeweils eigenen Markenkerne definieren. Das würde deutlich nützlicher wirken als die „Allianz-Mantras“ und die „verzweifelten Zuckungen von ertrinkenden Oppositionskräften“. Allerdings könne sich die Opposition kaum ergeben, räumt Pungor ein. Vielmehr sollte sie kämpfen, um zu verhindern, dass Orbán eine überwältigende Mehrheit für sich gewinne. Sobald Journalisten ihre Aufnahmegeräte ausschalten würden, spreche kein Oppositionspolitiker mehr von einem Wahlsieg, merkt der Kommentator an. Ihr absolutes Ziel liege darin, eine erneut Zweidrittelmehrheit der Regierung zu verhindern. Sollten sie aus Verzweiflung oder unter dem Druck von Orbán kritischen Meinungsmachern ein Bündnis mit Jobbik schmieden, würden sie die letzten Reste ihrer Glaubwürdigkeit und Identität verlieren, warnt Pungor.
Im selben Wochenmagazin kritisiert Zoltán Lakner den Linksaktivisten Márton Gulyás, der hunderte Millionen Forint sammeln möchte, um in jedem Wahlkreis Umfragen veranstalten zu können. (Auf diese Weise soll ermittelt werden, wer die jeweils aussichtsreichsten Oppositionskandidaten seien. Gulyás hofft, dass die übrigen Kandidaten von ihren Parteien in dem Bemühen zurückgezogen werden, einen Sieg der amtierenden Regierung zu vereiteln – Anm. d. Red.) Gulyás verweist auf das Beispiel Kanada, wo seiner Beobachtung nach vor zwei Jahren Konservative dank einer Bürgerbewegung geschlagen wurden. Diese Bewegung habe in Schlüsselbezirken die aussichtsreichsten Oppositionskandidaten ausfindig gemacht. Zunächst verweist Lakner darauf, dass Gulyás auch die Einführung eines Verhältniswahlrechts anstrebe, sich nunmehr aber auf das Mehrheitswahlrecht stützen wolle. Dies sei ein Anzeichen für mangelnde Konsequenz. Doch auch die Idee selbst hält Lakner für schlecht, da sie gemäß ihrer Logik Oppositionsparteien vor den Wahlen in eine sich verschärfende Konkurrenzsituation zwinge. Lakners Hauptargument bezieht sich aber auf die Parallele mit Kanada, die unhaltbar sei. Tatsächlich hätten die kanadischen Liberalen in den vier ihrem Sieg vorausgehenden Jahren in den Meinungsumfragen von 19 auf 39 Prozent zulegen können. Im Gegensatz dazu sei in Ungarn sechs Monate vor der Wahl die Regierungspartei die einzige, deren Beliebtheitswerte steigen würden. Kein Fundraising und keine öffentliche Meinungsumfrage könnten diesen Unterschied ausradieren, schreibt Lakner abschließend.
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