Linke 70 Tage vor den Wahlen zersplittert
22. Jan. 2018Verschiedene Kommentatoren bewerten die Wahlchancen der Linken unisono als gering, da sich deren Hauptakteure nicht zur Zusammenarbeit durchringen können. Dabei wird über die Vergabe von mehr als der Hälfte der Parlamentsmandate in den Wahlkreisen entschieden, in denen das Mehrheitswahlrecht zur Geltung kommt.
Albert Gazda teilt eine verbale Breitseite gegen den Vorsitzenden der Demokratischen Koalition, Ferenc Gyurcsány, aus, den er in Magyar Nemzet als „den nützlichsten Idioten im Universum von Ministerpräsident Viktor Orbán“ bezeichnet. Tatsächlich, so argumentiert Gazda, könnte die Linke die Wahlen nur beim Verlass auf die Stimmen enttäuschter Fidesz-Anhänger gewinnen. Gyurcsánys klägliche Vorstellung als Regierungschef zwischen 2004 und 2009 sowie seine wiederkehrenden Kampagnen gegen verschiedene Initiativen zur Unterstützung von Auslandsungarn dürften ihn allerdings für moderate Rechte unwählbar machen. Der ehemalige sozialistische Spitzenkandidat László Botka habe ihn aus einem imaginären Linksbündnis zu vertreiben versucht, sei damit aber gescheitert und habe zurücktreten müssen. Dessen ungeachtet schließt Gazda die Möglichkeit eines linken Erfolgs bei den Wahlen vom 8. April noch immer nicht vollständig aus.
Auf Mandiner äußert Kristóf Trombitás die Vermutung, dass linke Politiker und deren Anhänger in politischen von der Realität abgeschotteten „Echokammern“ leben würden, wo nur den eigenen Ansichten ähnelnde Meinungen anzutreffen seien. In ihrem Narrativ sei die Gesellschaft in eine große Mehrheit unterdrückter und im Elend lebender Menschen einerseits sowie andererseits in die Gewinner des Regimes, die nur ihrem eigenen materiellen Vorteil suchen würden, unterteilt. In Wahrheit allerdings, so Trombitás, sei ein Großteil des Wahlvolkes bereit, für die amtierende Regierung zu stimmen, weil die Menschen tatsächlich besser leben und mehr Möglichkeiten haben würden als vor sieben oder acht Jahren. Das Ignorieren dieser Tatsache führe dazu, dass ein oppositioneller Wahlsieg unwahrscheinlich sei, notiert Trombitás.
In Magyar Hírlap macht sich Dániel Kacsoh über den neuen sozialistischen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten lustig, der nicht einmal Mitglied dieser Partei sei. (Gergely Karácsony repräsentiert die Minipartei Párbeszéd [Dialog], die in Meinungsumfragen mit etwas weniger als einem Prozent Zustimmung gemessen wird – Anm. d. Red.) Der regierungsfreundliche Kommentator beschreibt Karácsony als Opportunisten, denn er habe seine vorherige Partei LMP verlassen, um 2014 gemeinsam mit linksliberalen Gruppen die gescheiterte Kandidatur von Gordon Bajnai für das Amt des Regierungschefs zu unterstützen. Erst in jüngster Vergangenheit habe er sich mit einer weiteren kleinen Gruppe, Együtt (Gemeinsam), zusammengetan, aber seine Verbündeten sofort im Stich gelassen, als ihm der Posten des MSZP-Spitzenkandidaten angeboten worden sei. Kacsoh zitiert den Politiker mit den Worten, dass die Chemie zwischen ihm und dem sozialistischen Spitzenpersonal stimme. Kacsoh dazu sarkastisch: Chemie bezeichne einen garantierten Sitz im Parlament.
In ähnlicher Weise hat Zoltán Kovács ein Problem mit Gábor Fodor, dem Chef der praktisch nicht existierenden Liberalen Partei, dem gleichfalls ein sicherer MSZP-Listenplatz angeboten wurde. (Zuvor hatte er mit fünf weiteren Kleinstorganisationen eine Absichtserklärung unterzeichnet, der zufolge man im April gemeinsam an den Start gehen wolle. Dieses Vorhaben hielt aber nur so lange, bis Fodor andernorts ein garantiertes Parlamentsmandat angeboten wurde – Anm. d. Red.) „Wohin wir auch blicken“, wettert Kovács in Élet és Irodalom, „wir sehen nichts anderes als weggeworfene Weihnachtsbäume und Parteistrategen“. Letztere hätten für Rezepturen eingestanden, wie die Wahlen in diesem Frühjahr oder zumindest in vier Jahren zu gewinnen seien. Unterdessen hätten sich „die beiden größten, aber in Wirklichkeit kleinen und anämischen“ Linksparteien praktisch selbst Schachmatt gesetzt, indem sie viele Jahre lang um den Titel des Stärksten gerungen hätten. Auch der linksliberale Cyberspace ist für den liberalen Kommentator eine Enttäuschung. Wie die politischen Kräfte sei auch das Internet in geschlossene Meinungsgruppen zersplittert, die nicht miteinander kommunizieren würden, beklagt sich Kovács.
In Népszava widerspricht Gábor Horváth der weit verbreiteten Meinung, der zufolge alle Oppositionspolitiker „Idioten“ seien. Zudem weist er die Ansicht zurück, dass viele von ihnen auf der Gehaltsliste der Regierung stünden. In der Realität, so analysiert der linke Kommentator, handele es sich bei diesen Akteuren um rationale Menschen, die an einer Optimierung ihrer Chancen arbeiteten. Zudem teilten sie divergierende Ansichten über die zu verfolgende Strategie. Einige würden beispielsweise die Renten erhöhen, andere mit dem Versprechen eines kostenlosen Hochschulstudiums um junge Menschen werben. Wieder andere konzentrierten sich auf die Umwelt oder die individuellen Menschenrechte. Die Sozialisten auf dem Land glaubten, dass DK-Chef Ferenc Gyurcsány ein Handicap für die Linke sein, während ihre städtisch geprägten Genossen davon ausgingen, dass sie ohne dessen Unterstützung niemals einen Wahlkreis gewinnen könnten. Sämtlichen dieser logischen Strategien würde es nicht gelingen, oppositionell orientierten Wählern Hoffnung zu geben, doch ohne diese Hoffnung, so Horváth, dürften sie im April kaum an den Wahlurnen erscheinen.