Linke und Liberale über den Bevölkerungsschwund
22. May. 2018Kommentatoren des linken und liberalen Spektrums halten es für unwahrscheinlich, dass die Regierung den Bevölkerungsrückgang einzig und allein mittels institutioneller Anreize in den Griff bekommen kann.
Ministerpräsident Viktor Orbán hat den in Ungarn zu verzeichnenden Bevölkerungsschwund immer wieder als eine seiner wichtigsten Herausforderungen für die kommenden Jahrzehnte bezeichnet. So hatte er unter anderem einmal festgestellt, dass die Bereitschaft der Frauen für Nachkommen zu sorgen das „privateste öffentliche Thema“ überhaupt sei. Um Familien dabei zu helfen, so viele Kinder wie sie nur wünschen zu bekommen, hatte sich Orbán für eine noch stärkere Förderung junger Paare ausgesprochen.
In einem Interview mit Heti Világgazdaság (Druckausgabe) hat sich Zsolt Spéder, der Leiter des Ungarischen Demographischen Instituts innerhalb des Statistischen Zentralamts, skeptisch über die Aussichten geäußert, dass der Regierung eine Umkehrung der aktuell vorherrschenden Trends gelingen könne. Die Geburtenrate zu erhöhen würde angesichts der abnehmenden Zahl von Frauen im gebärfähigen Alter nicht ausreichen. Spéder verweist auf Umfragen, denen zufolge Frauen den Mangel an geeigneten öffentlichen Kinderbetreuungseinrichtungen und Arbeitsmöglichkeiten als Haupthindernisse für die Geburt von mehr Kindern betrachten würden. Darüber hinaus seien die modernen partnerschaftlichen Beziehungen instabiler geworden, was nicht zuletzt die Gebärbereitschaft schmälere, unterstreicht Spéder. So dürften allein die finanziellen Anreize der Regierung die demografische Entwicklung nicht umkehren, lautet dann auch das Fazit des Experten.
Im selben Wochenmagazin wirft Árpád Tóta der Regierung eine Forcierung des ungarischen Bevölkerungsrückgangs vor. Nach Ansicht des liberalen Kommentators, der für seine zornigen und kämpferischen Artikel berühmt-berüchtigt ist, hat sich die Lage ungarischer Familien unter der Regierung Orbán massiv verschlechtert. Tóta geht davon aus, dass das ungarische Bildungs- und Gesundheitssystem schon einmal gar nicht fähig wäre, die Bedürfnisse von mehr Kindern zu befriedigen. Folglich würden steigende Geburtenraten unter den Armen – und insbesondere der Roma-Bevölkerung – „zur Herausbildung von unzivilisierten und aggressiven Binnenmigranten führen, die nicht besser wären als die arabischen Migranten dieser Tage“, notiert Tóta.
In 168 Óra vergleicht Attila Buják das Vorhaben der Regierung, die Geburt von Kindern zu fördern, mit der bevölkerungspolitischen Planung unter kommunistischen und nationalistischen Regimes. Der dem linken Spektrum zuzurechnende Kommentator vertritt die Auffassung, dass die Politik eines demografischen Wachstums Kennzeichen nationalistischer und autoritärer Regimes sei, die das Mehr an Menschen gerne zur Stärkung ihrer Legitimität sowie als Sinnbild ihres Erfolges ausschlachten würden. Unter Berufung auf Fachleute schlussfolgert Buják, dass staatliches Eingreifen den Bevölkerungsrückgang nicht umkehren könne. Und so bestünde die beste Medizin gegen die Entvölkerung in einer Anhebung des Wohlstands sowie in verbesserten ökonomischen Perspektiven.
Auch die Demographie-Expertin Dorottya Szikra kommt in 168 Óra zu Wort. Sie erinnert daran, dass das Kindergeld seit 2010 nicht angepasst worden sei. Die Regierung sollte im Sinne der Umkehrung des Bevölkerungsrückgangs bedingungslos gewährte Sozialleistungen erhöhen – insbesondere die Zuwendungen für alleinerziehende Mütter. Darüber hinaus sollte die Regierung die Väter dazu ermutigen, mehr Verantwortung bei der Kindererziehung zu übernehmen, schlägt Szikra vor.
Szilárd István Pap vom Internetprortal Mérce referiert eine aktuelle Umfrage der Friedrich Ebert Stiftung zu Aspekten des Lebens ungarischer Mütter. Der Umfrage der sozialdemokratischen Stiftung zufolge betrachten Mütter in Ungarn das Fehlen von Beschäftigungsmöglichkeiten sowie unflexible Arbeitsplätze als die Haupthindernisse für mehr Kinder. Neben familienfreundlicheren Arbeitsplätzen fordern Mütter eine verstärkte Unterstützung durch den Staat. Immerhin hält die mit 23 Prozent größte Gruppe der von der Stiftung befragten Mütter den Fidesz für die familienfreundlichste Partei.
In einem Kommentar für die Webpräsenz von Heti Világgazdaság äußert sich György Balavány zum Thema und bezeichnet dabei die ungarische Regierung als armselig, habe sie doch erst eine halbe Million Ungarn verjagt, um dann über den Bevölkerungsrückgang zu lamentieren. Der christlich-liberale Kolumnist findet es an sich nicht einmal so problematisch, dass es weniger Ungarn gibt. Allerdings räumt er ein, dass die Entvölkerung große wirtschaftliche Probleme verursachen werde. Balavány weist der Politik der Regierung die Hauptschuld für die Migration aus Ungarn und damit für die Entvölkerung des Landes zu. Es sei doch nicht hinnehmbar, wenn Einzelpersonen mehr Kinder bekommen sollen, um gemeinschaftliche Ziele zu erreichen – darunter die Fortpflanzung der Bevölkerung.
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